Die Qualen am Mont Ventoux


22 Kilometer, 1677 Höhenmeter, durchschnittliche Steigung acht Prozent. Für die Radprofis der Tour de France steht der Mont Ventoux oft wie eine riesige Wand im Weg.
 Für Hobbyradler aus der ganzen Welt ist die Strecke hinauf auf den kargen Gipfel die ultimative Herausforderung für Kopf und Körper – und manche von ihnen drehen unterwegs einfach um.

Fahrräder, überall Fahrräder. Auf dem Marktplatz in Bedoin lehnen sie an alten Platanen, blockieren den Eingang zum Café du Sport. Wo sonst die Männer des Dorfs ihren ersten Pastis trinken oder sich ab Ende August die Bauern mit ihren Trüffelhunden treffen, wuseln mitten im Hochsommer Männer in ihren bunten Klamotten durcheinander. Junge und viele alte. Alle haben ein Problem – wo ist eine Toilette? Der Ventoux ruft, aber vorher will das Wasser wieder aus dem Körper. Du musst viel trinken, wenn du da hoch willst, heißt es. Die meisten haben offenbar zu viel getrunken. Kurt Schmidt (65), Rentner aus Saarlouis, hat sein Wohnmobil auf einen Parkplatz neben der Straße geparkt. Auf dem holprigen Asphalt ist ein weißer Strich, daneben ein Schild: Mont Ventoux 22 Kilometer. Heute werden hier keine Profis bei einem Rennen vorbeihecheln, die meiste Zeit des Sommers gehört der Berg den Hobbyfahrern. 26 Grad um zehn Uhr morgens, ein leichter Wind, es duftet nach Provence und Massageöl. Kurt bietet sein chemisches Klosett an, und sagt trocken: “Reine Kopfsache, du musst der Straße nur deinen Willen aufzwingen.” Kurt hat seit 1. Januar 9000 Kilometer trainiert.

Die Zahlen sind aberwitzig. 22 Kilometer, exakt 1677 Höhenmeter, durchschnittliche Steigung acht Prozent, in der Spitze zwölf. Mein Tachostand in diesem Jahr: 1850 Kilometer. Anrollen, nur keinen zu großen Gang, auf keinen Fall zu schnell. Aber es läuft so leicht, auch auf dem großen 54er Blatt, die Straße schlängelt sich durch die Weinfelder, ein Kilometer, zwei, drei – kein Problem. Na, wo ist hier der Gigant der Provence? Ich schaue nach links oben. Die weiße Antenne des Ventoux ragt in den blauen Himmel. Scheint nicht besonders weit weg zu sein. Noch 19 Kilometer.

Kurt findet einen Mitstreiter. Francis (63/6000 Kilometer seit Januar) ist extra aus Kanada nach Frankreich gekommen. Er will hier das „Abenteuer meines Lebens” durchstrampeln, danach Olivenöl und Wein kaufen und wieder zurück fliegen. Francis wohnt in einem Golfhotel in Avignon für 250 Euro die Nacht. Sein Velo dürfte knapp 20-mal so viel gekostet haben. Mindestens. Die beiden unterhalten sich über die neuesten Radschuhe, passieren die ersten Wohnmobile der Urlauber, die hier auf dem Weg ans Meer ein, zwei Tage Rast machen, kühle Bergluft atmen und Radler gucken. Ganz ohne Tour de France. Vor allem Belgier, Holländer und Franzosen campen hier, aber auch ein alter VW-Bus mit Freiburger Kennzeichen.  

“Courage”, ruft eine dicke Frau vom Straßenrand. Kurt lächelt, Francis winkt. Eine Gruppe junger Leute vom „Vélo-Club Lyon“ hastet vorbei. Vier Männer, zwei Frauen, sehnige Waden, ernste Gesichter, dicke Gänge. Die Profis brauchen etwa eine Stunde zum Gipfel, die Cracks des Clubs wollen es in 90 Minuten schaffen. “Courage”, ruft Kurt in den Fahrtwind. Neben der Straße sprüht ein Bauer Gift in die Weinfelder.

Kilometer 5,4. Die Straße knickt am Restaurant „Mas des Vignes“ nach links in den Wald, es wird steil, 10,8 Prozent. Schnell aufs kleine Blatt, dritter Gang, zwei zur Reserve müssen noch bleiben. Schweiß tropft, der Herzschlag geht in den Hals, Wiegetritt. Ich suche mir Ziele. Bis zur nächsten Kurve, zum nächsten Wohnmobil, die Landschaft wird unwichtig. Endlich finde ich den Rhythmus aus Atmen und Treten. Dranbleiben an Kurt und Francis, du hast es dir versprochen. Ich fühle mich mies aber plötzlich gibt einer 100 Meter weiter vorne auf, steigt ab. Geil, der Kerl ist jünger als ich. Es geht ein bisschen besser. Ich lächle den Geschlagenen gönnerhaft an, aber schon hastet wieder eine Gruppe vorbei. Flüchtiges Sekundenglück. Noch 13 Kilometer.

Es ist heiß, mehr als 30 Grad, obwohl die 1000-Meter-Marke überschritten ist. Der Wind ist weg, die Grillen in den Zypressen werden immer lauter. Mein Blick fällt auf ein altes Asphalt-Tattoo. “Jan Ullrich” steht da, blass, blättrig und in Weiß. “Jan war mal ein Star“, keucht Kurt. Francis bleibt stumm, er weiß nicht, wer Ullrich ist. Die beiden wirken noch verdammt frisch.

Kilometer 16. Waldgrenze, es wird kurz flach, ein Parkplatz, die Kneipe Chalet Reynard mit bunten Sonnenschirmen und Menschen die Cola trinken und winken. Nicht halten, auf keinen Fall. Noch sechs Kilometer, die Oberschenkel brennen, das Tempo sinkt auf unter Zehn. Kein Schatten mehr, nur noch Geröll, Schweiß in den Augen und ein jämmerliches Gefühl im Bauch. Erster Gang (39 x 28), bleischwerer Tritt, das Ziel scheint nah. Ich spüre eine Hand im Rücken, ein junger Mann schiebt mich ein bisschen. “Merci”, keuche ich. “Koi Problem”, schwäbelt’s zurück.

Das Finale ist für alle hart. Sechs Kilometer in der Sonne, ohne Kraft und ohne Trost. Keine Camper mehr am Straßenrand, weil es keinen Straßenrand mehr gibt. Nur Steine, Hitze. Und heute noch nicht mal Wind am sonst so stürmischen Ventoux. Auch Kurt lächelt nicht mehr, Francis hat aufgegeben. “I’m dead”, sagt er und schiebt. Viele andere auch, einer nicht. Ein junger Holländer mit Prallwaden auf einem Tourenrad mit einem Kind im Anhänger beschämt die Geschlagenen mit ihren blitzenden Velos. Zwei Kilometer vor dem Gipfel steht der Gedenkstein für Tom Simpson, der 1967 hier tot vom Rad fiel – voll mit Amphetaminen. “No mountain to high, daddy”, haben seine Töchter eingravieren lassen. Viele halten, machen ein Foto. Wer kann, fährt weiter. Kurt fährt. “Kopfsache”, keucht er. Sein Kopf ist rot wie ein Ferrari.

Letzter Kilometer. 10,9 Prozent, der Tacho zeigt sieben Kilometer pro Stunde, das Hirn ist leer, der Puls ungesund hoch. Und Tritt und Tritt und Tritt. Rechtskurve, noch 100 Meter, es wird flach. Endlich, nach zwei Stunden und vier Minuten, Ankunft auf 1909 Meter. Atmen, schwitzen, plötzlich tiefes Glück im Bauch. Geschafft, diesen elenden Schweineberg, irgendwie. Ich kaufe einen Apfelsaft und ein Wasser. Fünf Euro – die Welt hat mich wieder.

Trubel am Gipfel. Auf dem Parkplatz unterhalb der Antenne stehen wieder die Räder vom Vormittag in der flimmernden Sonne. Wildfremde Menschen schütteln sich die Hände. “Courage”. Pinkeln muss keiner mehr. Nur trinken, über die Provence schauen, Geleefrüchte kaufen. 100 Gramm 2,50 Euro. Kurt kauft keine, Francis hat umgedreht, drei Kilometer vor dem Ziel. Eine halbe Stunde Pause, dann Abfahrt auf der anderen Seite nach Malaucène. Kurt lässt es krachen – 21 Kilometer in 25 Minuten. Ich bremse immer so kurz vor 65 – und werde von Menschen auf Hollandrädern ohne Helm und in Sandalen überholt. Wahnsinn. Unten nimmt Kurt noch ein Bier in der Bar am Marktplatz und dann geht es um den Berg herum zurück zu seinem Wohnmobil. Morgen will er noch einmal rauf.

Ich eher nicht.

Jürgen Löhle

Kontakt zum Autor: www.juergen-loehle.de

 

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