Wenn man bedenkt, dass der Nachkriegstourismus der Deutschen, die Filmarchive und Bibliotheken sind voll von rührenden Geschichten, dass er an der Adria begann, von Rimini in der Emilia Romagna bis in die Marken, dann wundert man sich schon, dass diese Gegend in der Folgezeit in Vergessenheit geriet. Die Toskana wurde zum Lieblingsziel der wieder begüterten Tedeschi. Umso faszinierender ist es, die Wiedergeburt der Marken zu erleben. Und das nicht nur am Meer, auch das Hinterland erfindet sich neu.
Der verborgene Schatz
Die italienische Region Marken (Le Marche), eingebettet zwischen Apennin und Adria, gilt noch als „verborgener Schatz“ Italiens. Während der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg andere Regionen – wie die Toskana, die Lombardei oder Venetien – erfasste, blieb das Leben in den Marken agrarisch und von klein-und mittelständischer Industrie geprägt. Doch gerade dieser verzögerte Wandel wird heute zu einem Standortvorteil.
In den 1960er Jahren begannen erste zaghafte Entwicklungen im Badetourismus, vor allem entlang der Adriaküste bei Orten wie Senigallia, Fano oder Civitanova Marche. Italienische Familien aus dem Norden nutzten den Sommer für erschwingliche Ferien an sauberen Stränden mit familiärer Atmosphäre. Die Infrastruktur war jedoch begrenzt. Pensionen, einfache Hotels und Campingplätze dominierten das Bild.
Parallel dazu setzte die Urbanisierung ein: Bewohner ländlicher Gebiete zogen in neu entstehende Vororte oder Kleinstädte, was auch Impulse für den lokalen Immobilienmarkt gab – vor allem durch den Wunsch nach moderneren Wohnformen.
In den 1980er Jahren stagnierte die touristische Entwicklung in vielen Teilen der Marken wieder, da große Investitionen in Infrastrukturen ausblieben oder misslangen. Der Massentourismus konzentrierte sich weiterhin auf Rimini oder Jesolo, während die Marken eher durch Individualtouristen entdeckt wurden, oft auf der Suche nach einem „authentischem“ Italien.
Zugleich begann der Immobilienmarkt, sich langsam zu diversifizieren. Italienische Städter investierten in Zweitwohnsitze, besonders im Hügelland mit Blick auf die Adria. Erste ausländische Käufer – vor allem aus Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden – entdeckten die Marken als Alternative zur überlaufenen Toskana. Das Preis-Leistungs-Verhältnis galt und gilt noch heute als attraktiv.
Hin zum sanften Tourismus
Ab der Jahrtausendwende vollzog sich dann ein Paradigmenwechsel. Die Marken werden heute gezielt als Region des „sanften Tourismus“ vermarktet: Nachhaltigkeit, Kultur, Natur und Kulinarik stehen im Vordergrund. Städte wie Urbino, Jesi und Loreto (UNESCO-Welterbe), Ascoli Piceno, Macerata oder Pesaro werden aufgewertet. Agriturismo, Weingüter, Bed & Breakfasts und Boutiquehotels sind präsent – vielfach auf Basis renovierter Landgüter.
Der Immobilienmarkt wird zunehmend international. Vor allem Briten, Belgier, Deutsche und Skandinavier kaufen Landhäuser, oft mit Restaurierungsbedarf. Die Nachfrage nach rustikalem Charme und toskanischem Lebensgefühl „ohne Touristenmassen“ belebt das Bau- und Handwerksgewerbe.
Heute stehen die Marken vor der Herausforderung, Wachstum und Identität in Einklang zu bringen. Der Inlandstourismus ist stark, aber auch internationale Gäste, darunter viele Kulturtouristen, zieht es in die Region. Der Küstentourismus erlebt eine qualitative Erneuerung mit neuen Resorts, Strandclubs und Radwegen. Zugleich wird das Hinterland als Ziel für Slow Tourism und Outdoor-Aktivitäten entdeckt.
Die Immobilienpreise sind seit der Eurokrise (2008) und verstärkt nach der Pandemie (2020) moderat geblieben, was Kaufanreize für ausländische Investoren bietet. In jüngerer Zeit rückt auch die Digitalisierung der Immobilienwirtschaft voran: Online-Portale, virtuelle Besichtigungen und gezielte Marketingstrategien helfen dabei, internationale Käufer anzusprechen.
So beginnen sich die Marken von einer stillen Agrarregion zu einem gefragten Reiseziel und Immobilienstandort zu entwickeln – nicht durch spektakuläre Großprojekte, sondern durch Nachhaltigkeit, Authentizität und das Zusammenspiel von Natur, Kultur und Lebensqualität. Diese Balance macht sie zu einem Vorbild für strukturschwache Regionen in Europa.
Recherche an der Riviera del Conero
Wir haben unsere Recherche auf die Riviera del Conero begrenzt, in Senigallia begonnen, einem aufstrebenden Ferienort mit breitem Sandstrand. Etwa 25 Minuten vom Flughafen Ancona entfernt, buchten wir in der Residence America, dessen Strand als “velluto, samtig” beschrieben wird. Wohltuend auch das Spezialitäten- Restaurant Twins mit überdachter Terrasse und Gerichten aus dem Meer vor dem literale maceratese. Zum Ausgleich im Parterre eine Pizzeria, die indes diese Verbindung von Teig und Belag stets neu erfindet und sich auch von der klassischen neapolitaniaschen Rundform nicht einengen lässt. Claudio Carbini, Zahnarzt, Präsident der Bank BCC in Ostra Vetere und Miteigentümer der Residence America meint, es sei ein Charakterzug der Marchegiani, “mit Einfaltsreichtum aus Wenigem das Meiste zu gewinnen.” Gut, mittelständische Unternehmen, manche durchaus mit internationaler Ausstrahlung wie einige Schuhfabriken, die Energy Group in Potenza Picena oder die Garbage Group in Ancona, prägen die Region. Aber vieles hat seine Grenzen. Das stabilimento industriale Silga in Montecosaro wartet bislang vergeblich auf bessere Zeiten.
In Senigallia besuchten wir eine wunderschöne Villa in der Altstadt, aber zwei Freunde aus der Schulzeit, die sie gemeinsam restaurarieren wollten, verloren die Zuversicht. Die Villa steht zum Verkauf, der Gaststättenbetreiber gegenüber regte ich uns gegenüber furchtbar auf: “Seit zwei Jahren habe ich die Baustelle vor der Nase. Nichts rührt sich.”
Lost places
Bei einigen Gebäuden in der Umgebung konstatierten wir ebenfalls Stillstand, sie sind lost places oder auf dem Wege dahin. Sie warten auf neugierige Touristen oder Entscheidungsfreudige, die sich einen Traum verwirklichen wollen. Wie etwa die Villa Marcelli Flori oder die Villa Ferretti bei Ancona in Santa Maria de Vico. Während der Fußball-Weltmeisterschaft beim Spiel Österreich gegen Italien waren die Bewohner im Stadion, Räuber räumten mit einem Lkw die Barockmöbel aus, Kerzen der benachbarten Kirche benutzten sie als Rollen.
Wichtiger Ort, gerade für geschichtsbewusste Deutsche, ist Jesi, wo Friedrich II, der “Suebe” (Schwabe), Stauferkaiser in Sizilien und einer der herausragendsten Persönlichkeiten des 12. und 13. Jahrhunderts geboren wurde. Auf de Piazza Federico II sind noch die Ausmaße seines Zelts abgesteckt, in dem ihn seine Mutter, Kostanze von Sizilien, zur Welt brachte. Einen Steinwurf entfernt der Palazzo della Signoria und das Teatro Giovambattista Pergolesi, des Schöpfers des Requiems Stabat Mater Dolorosa.
Es gibt aber auch unbekanntere und gleichwohl faszinierende Destinationen in der Gegend wie das Castello di Beldiletto a Pievebovigliano Valvornace, das Convento Augustiniano in Corciano oder das Monastero francescano in Sassoferrato. Alle drei sind mit Hilfe des örtlichen Tourismusvereins zu besichtigen, wenn man sich frühzeitig anmeldet, denn die Burg- und Klosterherren sind längst weitergezogen, haben aber reichlich Spuren hinterlassen, die Zeugnis geben von ihrem Leben und ihrer Zeit.
Ergriffen vom Blick über die Landschaft

Manchmal genügt auch nur ein Blick über die Landschaft, um ergriffen zu sein. Vom Hotel l´Antico Uliveto in der Nähe von Potenza Picena hat man einen Blick auf den Torre del Porto von Pozenza Porto wie auf ein Gemälde. Vom Hotel Tetto Delle Marche in Cingoli führt ein Weg zum Lago di Cingoli. Vorbei an einem alten Turm und einem Restaurant, das von dem Vater des Hotelbesitzers betrieben wurde, eröffnete sich uns ein Blick über Ginsterbüsche in ihrer Blüte hinunter zum See und darüber zu einem Abendhimmel, der zerrissen zwischen Sonne und Wolken ein eigenes Universum offenbarte.

Wer einen Blick tief in die Welt des Glaubens werfen will, der gehe nach Loreto ins Heilige Haus und besuche die schwarze Madonna. In der Basilika haben einige Länder ihre Kapellen, dass die deutsche nicht die bescheidendste ist, versteht sich. Loreto ist einer der wichtigsten Wallfahrtsorte Italiens, Assisi ist auch nicht weit. Viel Pilger suchen in Loreto ihren Frieden, und wenn sie im Albergo Pellegrino & Pace ein Zimmer finden, es liegt direkt an der Piazza della Madonna, dann haben sie jedenfalls Glück gehabt. Wer lediglich Ruhe sucht, der probiere dies im Castello la Genga, einem “luogo del silenzio” noch eine Strecke hinter Jesi, dessen Vergangenheit sich “in der Dunkelheit der Zeiten verliert”, wie es auf einer Inschrift heißt.
Wer dagegen sein Glück und Seelenfrieden in den Gassen historischer Städtchen sucht, der ist in den Marken ebenfalls gut aufgehoben. Denn davon gibt es reichlich, je nachdem wie groß man den Kreis um Ancona zieht. Der könnte bis Perugia im Westen, San Marino in Norden und Ascoli Piceno im Süden gehen. Doch auch wer im Umfeld der Riviera del Conero bleibt, findet in den Colli del Infinito geradezu “unendlich” viele Borghi und Città, die es zu besuchen lohnt, von Potenza Picena über Recanati, Castelfidardo, Numana, Montefano, Sirolo, Camerano bis Agugliano. Wir hielten uns länger in Potenza auf. Der Franziskaner Gerhard von Lunel erlitt hier, in Monte Santo, wie Potenza früher hieß, 1298 einen Zusammenbruch. Mit seiner Heiligsprechung durch Papst Benedikt XIV. wurde er zum Schutzheiligen der Epileptiker. Wir schlossen den Rundgang in der Osteria del Vicolo ab, ein Zusammenbruch konnte vermieden werden.
Natürlich darf die Küste nicht zukurz kommen, neben Senigallia besuchten wir Civitanova Marche und den Strand der due sorelle. Die Stadt mit mehr als 40 000 Einwohner liegt im Süden von Ancona am Meer und gehörte bis 1861 zum von den Habsburgern regierten Königreich beider Sizilien. Auch hier gibt es noch einiges zu tun, wir besuchten das Hotel Miramare, günstig zwischen Meer und Zentrum gelegen, und das Cinema Adriatico, zuletzt eine Diskothek, wo 60 Apartments Platz fänden, wenn sich ein Investor findet.
Eine Region, die ihre Zukunft sucht
So präsentierten sich die Marken, jedenfalls der von uns besuchte Teil, als eine Region die etwas zögerlich aber doch mit Nachdruck eine Zukunft sucht, die versucht, ihr kulturelles Erbe nicht weiter verkommen zu lassen, sondern zu Preziosen eines Tourismus werden zu lassen, der alles Massenhafte und Zerstörerische hinter sich lässt.