Text und Fotos: Dr. Harald Schmidt
Foto oben: Die Friedensglocke auf dem Fichtelberg wird geläutet für Frieden und Freiheit
Bald nun ist Weihnachtszeit … Das Erzgebirge feiert bereits eine fünfte Jahreszeit – Weihnachten. Tausende Touristen rollen mit Bus und Pkw in das ‚Weihnachtsland‘ von Ende November bis Ende Dezember, in manchen Orten noch danach. Im Erzgebirge wird für Weihnachten seit vielen, vielen Jahrzehnten gebaut, geschnitzt, gebacken, Räucherkerzen geformt und selbstverständlich verkauft.
„Komm zu uns ins weihnachtliche Erzgebirge. Aber bitte wochentags, am Wochenende sind schon alle da“, scherzt Dirk Weißbach, Chef der Tourist-Information von Schwarzenberg. Recht hat er: Die im Tal liegende mittelalterliche Stadt Schwarzenberg wandelt sich im Lichterglanz zu einem Sternenhimmel auf Erden. Nicht nur die Straßen und Plätze sind illuminiert. Auch die Fenster der Häuser erreichen dank weihnachtlichem Lichts durch Schwibbögen, Pyramiden, Bäume und Sterne ein stimmungsvolles Glücksgefühl bei Gastgebern und Gästen. Übrigens: der Schwibbogen wurde im Erzgebirge entwickelt und stellt symbolisch den Eingang in einen Bergbaustollen dar. Ebenso wurde der Stollen, dieses kalorienreiche Gebäck der Weihnachtszeit, im Erzgebirge zum ersten Mal dem Bergbau-Namensvetter nachgeformt. Doch Vorsicht – es gibt auch die Dresdener Stolle, die ans Christkind erinnern soll und etwas anders gebacken wird. Aber das sind Feinheiten.
Weihnachten wird im Erzgebirge nicht nur gefeiert, sondern wie ein Gourmet-Essen zelebriert. Es ist mehr als eine Glaubenssache. Das ist Tradition – mit und ohne Touristenattraktion. Was für den Rheinländer der Fasching, das bedeutet dem Erzgebirgler Weihnachten.
Der Autor wählte jedoch die Zeit der Ruhe vor dem Sturm und entdeckte auch in der Vorsaison Überraschendes in keineswegs vorhandener Tristesse. Es muss nicht unbedingt Weihnachten sein, denn da sind schon alle da …
Nebelschwaden ziehen über das Plateau des Fichtelberges in etwa 1.215 Meter Höhe. Es ist der höchste Gipfel des Erzgebirges auf sächsischer Seite unmittelbar an der tschechisch-deutschen Grenze. Bei herbstlichem Wetter muss kalter Nebel nicht unbedingt normal sein. Einen Tag später zum Beispiel sollte der Blick bei klarem Wetter bis ins etwa 40 Kilometer entfernte böhmische Karlovy Vary (Karlsbad) reichen. Doch heute, an einem Sonntag im Herbst, ist es eben nasskalt und nebelig wie in einer alten erzgebirgischen Waschküche vor 100 Jahren.
Der Türmer von Schwarzenberg
Apropos Waschküche: Im Erzgebirge – genauer gesagt in Schwarzenberg – wurden die ersten Waschmaschinen in Deutschland, die Vorfahren der heutigen, gebaut. Dazu haben die Erzgebirgler Gerd Schlesinger, amtlicher Türmer von der Erzgebirgsstadt Schwarzenberg, und sein Assistent Jörg Eller ihrer kleinen Gruppe aus Sachsen, Thüringen, dem Rheinland, Bayern und r der Slowakei – Gästen einer Geburtstagsfeier – noch einiges zu sagen.
Doch zunächst die Frage: „Was macht heute eigentlich ein Türmer – im Zeitalter der digitalen Kommunikationstechnik?“ Das Multitalent ist nicht nur Türmer, sondern betätigt sich zudem als Glöckner, Stadtführer, Stadtchronist und Leiter eines Glockenmuseums in Schwarzenberg, hat mit der Frage gerechnet: „Der Türmer wird als Amt von der Stadt verliehen. Das war schon immer so. Der Türmer musste im wahrsten Sinne von oben die Übersicht innerhalb und außerhalb der Stadt behalten und die Einwohner z. B. vor Feinden und vor allem vor dem Feuer warnen. Heute protokollieren wir für das Stadtarchiv die kleinen und großen Ereignisse in unserer Stadt Schwarzenberg und beobachten wie unsere Vorgänger im Laufe der Jahrhunderte die Situation in der Stadt, um Gefahren abzuwenden. Türmer sind im wahrsten Sinne des Wortes professionelle Zeitzeugen. Noch heute schreiben wir die Stadtchronik gemäß dem Türmer-Reglement mit der Hand. Wir haben aber eine zweite Chronik für Fotos und Zeitungsausschnitte“, erläutert der Mitte Vierziger. Noch eine Frage dazu: „Wie wohnt es sich mit Familie in luftiger Höhe? Schon im Mittelalter wohnten relativ weniger Türmer auf dem Turm. Heute sind es auch nur wenige. Wer möchte schon gern in seinem Büro wohnen – bei aller Gesundheit des Büroschlafes. Nein, ich wohne mit meiner Frau und den Kindern in einem normalen Haus. Ich muss allerdings mindesten sechs Stunden auf dem Turm anwesend sein, um Ausschau über und damit für die Stadt zu halten.“
Aber im Moment drängt ein zeremonielles, zur Tradition gewordenes Programm, das der Türmer und sein Assistent mit Hingabe erfüllen wollen. Jetzt sind beide im Stress. Beide begleiten heute die kleine Gruppe im kleinen Bus zum Gipfel. Es soll ein besonderer Nachmittag werden. Doch noch haben sie den Gipfel des Berges, den Gipfel des Tages noch nicht erreicht.
Mystisches auf der Spitze Sachsens
Auf der ‚abgehobelten‘ Spitze Sachsens ist es heute wirklich ungemütlich, leer, trist und kalt. Touristen einer Reisegruppe zieht es nach dem Ausstieg rasch wieder in den Bus oder in die Restauration. Farbige Anoraks punkten durch die weißen Schwaden wie Bojen im Meer – im Wolkenmeer. Das traurige Fluidum hat allerdings etwas Mystisches. Schemenhaft sind die Mauern des Fichtelberg-Hauses, der Wetterstation, der Schwebebahn, erkennbar. Die Bahn, es ist die mit 92 Jahren ältesten Luftseilbahn Deutschlands, ist in Nebelschwaden gehüllt erstarrt. Allmählich verdichten sich die zarten Schwaden zu einer weißen Mauer. Wen treibt es heute hier hoch? Keine Wanderer zu Fuß oder mit Ski, wohl aber Autofahrer. Vorsichtig irren sie umher. Da ist doch etwas, das die Leute hält.
Auf dem Weg zu Spitzen
Der Minibus mit den Geburtstagsgästen schraubt sich mit gedämpfter Geschwindigkeit die bergige Bundesstraße 95 hinauf. Oberwiesenthal wird erreicht. Mit 914 Metern über dem Meeresspiegel ist es die am höchsten gelegene Stadt Deutschlands mit dem am höchsten gelegenen Marktplatz. Die Gegend hier gilt als relativ schneesicher. Kein Wunder das hierher die meisten Wintersporttouristen des Erzgebirges kommen.
„Freilich gibt es in Deutschland größere Orte mit mehr als 2.500 Einwohnern. Allerdings haben diese Orte kein Stadtrecht wie Oberwiesenthal“, gibt Gerd Schlesinger mit einem verschmitzten Lächeln zu. Die Erzgebirgler sind oft zu bescheiden. Wenn sie mal dran sind, dann legen sie zu. So sind sie eben – pfiffig. Übrigens pfiffig: viele Erfindungen – nicht nur edle Erze wie Silber, Gold, Uran in der Vergangenheit und heute bald Seltene Erden – kommen geschaffen von kreativen Menschen aus der Region. Gerd weiß aus seiner Stadt Schwarzenberg für die Gäste Erstaunliches zu erzählen: „Der Unternehmer Karl Louis Krauß hatte vor 115 Jahren den Standort für seine Waschmaschinenproduktion ausgewählt, weil hier damals die besten Bleche in Deutschland hergestellt wurden. Bis nach der Vereinigung der deutschen Staaten bauten die Schwarzenberger Waschmaschinen-Hersteller für ihre Existenz. Aber der Markt und die Treuhandanstalt waren stärker. „Die Bleche waren auch die Voraussetzung und der Grund für die Autoproduktion, so setzt Gerd Schlesinger mit einem stolzen Lächeln fort. „So wurde die erste Karosserie des VW Käfer in Schwarzenberg entwickel und gebaut; nicht in Wolfsburg. Die Wolfsburger kamen erst später. Es war der Erfinder Herr Volk. Die Ideen dieses Mannes wurden von den Faschisten übernommen. Er wurde seiner Ideen enteignet. Ungeklärt ist die Frage, ob der Volks-Wagen nach Herrn Volk oder nach dem Volk benannt wurde.“
Der kleine Bus beginnt zu beben. „Das kann nicht sein.“ Jürgen ein Gast: „Ich war zwei Jahre in der Autostadt in Wolfsburg tätig. Dort beginnt die Geschichte dieses Autos erst in Wolfsburg. „Doch! Das kannst du mir glauben“, versichert Jürgen unterstützt von Hans aus der kleinen Gruppe. Beide wischen und tippen sichtlich erregt auf ihren Smartphone. „Bei Google steht nichts dergleichen“, jubilieren beide nahezu gleichzeitig. „Google ist nicht die letzte Weisheit“, entgegnet der ältere Erwin. Das ist offenbar wieder mal ein Beispiel für die lockere und lückenhafte Formulierung. „Ja, denen kannst und darfst du nicht alles glauben. Man muss nicht alles Google glauben, schon gar nicht, was nicht gesagt wird. Aber gut, es ist nicht exakt. Doch vielleicht wird Karosseriebau für die Autoindustrie als nicht so wichtig erachtet“, meint Erwin etwas spöttisch.
‚Streichler der Geschmacksknospen‘: Vogelbeere-Likör und Mooreichen-Schnaps
Doch die natürliche Situation kühlt ab. Bei den gefühlten Temperaturen von minus 6 Grad, real plus 6 Grad ist derjenige gut beraten, der richtig gekleidet ist. Die Geburtstagsgruppe hat vorgesorgt: Schnaps und Likör selbstverständlich aus dem Erzgebirge macht die Runde. Davon hat die Region auch einiges zu bieten. Die Kräuterliköre, darunter die süße – sogenannte DDR-‚Bückware‘ – „Wilde Sau“ – sie gab es zumeist nur unter dem Ladentisch – mögen nicht jedermanns Sache sein. Zeit ändert den Geschmack auch bei Getränken. Der kreierte 42%tige Schnaps aus der Mooreiche – geschmacklich fließt er in Richtung Whisky – sowie die Liköre von der Vogel- oder Heidelbeere sind echte ‚Streichler‘ der Geschmacksknospen vom erzgebirgischen ‚Grenzland‘-Produzenten.
Nebenbei gesagt: die Vogelbeere wird von einigen Einheimischen gern als Baum des Erzgebirges besungen. Diesen bescheidenen Baum pflanzte man an Wegesrändern oder vor vielen Gehöften und Häusern des Erzgebirges. Das berühmte Lied vom „Vugelbeerbaam“ erdichtete der erzgebirgischen Förster und Heimatdichter Max Schreyer im 18. Jahrhundert. Es ist noch heute der Hit auf jedem Erzgebirgsabend und in vielen Regionen Deutschlands.
Aktuell wärmt sich die Geburtstagsfamilie mit den zarten Hard-Drinks auf. Zuvor der Trinkspruch vom Heimatdichter Erwin Hasch:
„Oh Fichtelberg, oh Fichtelberg,
wenn ich dich seh‘, bin ich ein Zwerg.
Am Hang da gibt’s viel Bergwerk
und weihnachtliches Schnitzwerk.
Oh Fichtelberg, oh Fichtelberg.
Darauf einen Schluck.“
Ein bewegtes und bewegendes Denkmal für Frieden und Freiheit
Endlich ist der Bus mit der gut gelaunten Gesellschaft, mit Türmer Gerd Schlesinger und Glöckner-Assistent Jörg Eller aus Schwarzenberg, auf dem Gipfel angekommen. Einige ‚Gipfelstürmer mit PS-Unterstützung‘ bleiben erwartungsvoll vor einem merkwürdigen Gestell, gebaut aus starken, schweren Holzbalken, stehen. Das dunkle Holz durchdringt die Nebelschwaden. Die schwere Glocke wiegt 1.600 Kilogramm und hat einen Durchmesser von einem Meter zwanzig.
Das Gestell muss nicht nur das Gewicht tragen, sondern auch die Kraft ihrer Schwingungen aushalten. Die Uhr auf dem Handy zeigt 15:40 Uhr. Eile ist geboten: Punkt 16 Uhr muss die Friedensglocke läuten. Die Glöckner hängen Poster der Europäischen Nachtwächter- und Türmer-Zunft auf. Flyer werden verteilt, die den Sinn des Vorhabens – das Läuten erläutern.
Die beiden Glöckner haben sich warm angezogen. Bei der Glocke weht verstärkt ein kühles Lüftchen. Sie hängt frei und soll ja auch in völliger Freiheit, nicht eingeengt in Mauern, sondern entfesselt für die Freiheit läuten.
Was für ein Symbol! Es wurde nahezu ausschließlich aus Spenden finanziert. Nun ist es Tradition geworden: Jeden Sonn- und Feiertag um 16 Uhr wird die Friedensglocke zum Singen gebracht. Sie soll Frieden und Freiheit über die Gipfel des Erzgebirges bis weit ins Böhmische und Deutsche hinein verkünden: Glocken-Klänge verbinden. Das ist doch besser als ein stummer Stein oder unbewegte Bronze. Gerd Schlesinger hatte im Jahr 2009 diese Glocke als bewegendes und bewegtes Denkmal für die Einheit Deutschlands vorgeschlagen und durchgesetzt.
Der Türmer stößt ins Horn
Nun ist aber Eile für eine traditionelle und wichtige Zeremonie geboten. Denn das Ereignis beginnt in wenigen Minuten um 16 Uhr. Es ist bereits kurz davor. Die Glöckner stimmen sich mental ein und probieren die Seile an den beiden Enden. Endlich ist es soweit. Vor der Glocke ruft aber der Glöckner. Gerd, der Türmer und Glockenspezialist, hält auch in punkto Kleidung auf Tradition. Er trägt eine flache Kappe mit breiter Krempe auf dem Kopf. Ein wie die Mütze dunkelblau gefärbter Umhang wärmt nicht nur, sondern ist ebenfalls eine traditionelle Bekleidung. Gerd greift zunächst nicht zum Seil der Glocke, sondern zum Stierhorn. Es ist echt, leicht gebogen – wie es die Natur bei Stierhörnern will – und etwa einen halben Meter lang. Er bläst in ein eisernes Mundstück und entlockt dem Horn archaische Töne. Da braucht es eine stierkräftige Lunge. Dreimal in alle vier Himmelsrichtungen stößt er ins Horn. Diese dumpfen Töne und dazu der Nebel … Da wird Innehalten und Nachdenken zum Gebot. „Das ist eine überlieferte Türmer-Tradition“, erklärt Gerd später. Er bedauert den Nebel. Aber warum?
Das Vorprogramm läuft und der Türmer greift zu einer Sprechtüte aus Messing, um die Gäste zu begrüßen. Elektronik ist bei dieser Zeremonie verpönt. Die Namen von kürzlich Verstorbenen, die der Türmer selbst beerdigt hat, werden verlesen. „Was ein amtlich bestellter Türmer alles so zu tun hat“, denkt der Autor so im Stillen. Aus der Zunft der Nachtwächter und Türmer gesellt sich ein Kollege in traditioneller Nachtwächterkleidung, mit Hellebarde und einer Kerze, die von einer Laterne vor dem Erlöschen geschützt wird, zum Glocken-Team. Der Kollege steht Ehrenwache für einen verstorbenen Türmer-Kollegen. Eine beeindruckende alte Tradition lebt auf.
Die Zeigerstellung auf der traditionellen Uhr des Autors zeigt jetzt vier Uhr nachmittags. Jörg der zweite Glöckner greift den Klöppel der Glocke und schlägt direkt an die Glockenwand. Das gehöre zum Vierstunden-Türmer-Ruf, erfahren die Gäste später. Jetzt ruft Gerd in den grauen Himmel den wohl vielen bekannten Sing-Sang-Ruf: „Hört ihr Leut‘ und lasst Euch sagen, unsere Glocke hat vier geschlagen.“ Der Rest verhallt in die andere Richtung … Nun beginnt der Hauptakt – der Part der Glocke und ihrer Meister. Gerd und Jörg greifen mit festen Händen nach den Seilen. Der Nachtwächter steht weiter unbeweglich seine Ehrenwache. Die Männer beginnen die Seile wechselseitig zu ziehen. Geradeso als ob einer dem anderen die schwere Glocke entreißen wolle. Die Glocke setzt sich schwerfällig in Bewegung. Zehnmal muss sich jeder Mann ins Seil werfen bis der Klöppel – sozusagen die Zunge der Glocke – an der Glockenwand leckt und ihr den ersten Ton entlockt. Zweimal zehn schwenkt die Glocke still und gibt danach ihr Inneres frei. Jetzt schweben die Klänge erst noch sanft, dann kräftig aus vollem Hals mit den Nebelschwaden über die bergige Landschaft in alle Himmelsrichtungen:
dong, dong, dong, dong,
doong, doong, doong, doong,
dooong, dooong, dooong, dooong,
… Bis der Klang gleichmäßig kräftig bleibt.
Die Glocke erreicht durch die Kraft der Männer allmählich ihren Höhepunkt. Zehn Minuten darf das bewegte Denkmal singen. Die beiden Männer müssen alle Kraft aufwenden.
Dunkel hebt sich die Glocke von der weiß-grauen Landschaft ab. Zwar fehlt heute die Aussicht. Aber das Fluidum ist mystisch-archaisch und demütig, ja hypnotisierend. Die feuchte Kühle spüren die Zuhörer kaum und die beiden Glöckner sind ins Schwitzen gekommen.
Die Glocke ruht nun und schweigt bis zum nächsten Sonntag. Der Nebel mag vielleicht ihre Stimme leicht gemindert haben; wie er es beim Menschen auch tut. Aber durch den Nebelschleier wird das dunkle, schwere Metall aufgewertet. Der Nebel hat ein weiches Bild geschaffen. Das ist doch etwas!
Der Fichtelberg bekommt an diesem tristen Tag eine stimmungsvolle Krone aufgesetzt. Aber es passt alles. Nach dem eigenwilligen Ort auf einem sagenhaften Platz folgt das Nachprogramm mit dreimal drei Klöppelschlägen an die Glockenwand – das „Vater-Unser“. Türmers Abgesang – ja ein Türmer muss auch singen können – und die Verabschiedung ist der letzte Akt einer jungen Tradition mit vielen Details, die weit in die Geschichte reichen. Die Gäste brauchten ein paar Minuten der Erlösung von Starre und Schweigen. Die meisten Zuhörer haben vermutlich eine derartig große Glocke manuell noch nicht läuten gesehen. Ein Erlebnis der besonderen Art und ein originelles Erlebnis.
Der Nebel zollt Respekt und lockert sich durch einen leichten Luftzug auf. Die Nebelmauer wird erneut zu Schwaden – ähnlich dem Weihrauch in Tempeln. Die Mystik verliert durch die Lockerheit an Kraft, denn der Mensch kann sich sichtbar besser orientieren. Einige Schwaden kräuseln sich – wie Locken von Engeln – weiß und zart. So werden Glaube und Sagenhaftes genährt.
Der kleine Bus mit der Geburtstagsgesellschaft, Türmer und Glöckner Gerd, seinem Assistenten Jörg fährt nun von der Nebel verschleierten Spitze bergab. Im Tal erwarten alle die letzten Strahlen des festlichen Tages der goldgelben Spätnachmittagssonne, die durch ein paar Löcher der Wolkendecke drängen. Crottendorf wird passiert. Mit dem Ort Bockau ist er einer der Spezialisten für Räucherkerzen. Die Fahrt führt nach Schwarzenberg, der Stadt technischer Errungenschaften in Deutschland. Die Stadt und Region Schwarzenberg war vor hundert Jahren einer der wichtigsten Blechhersteller in Deutschland. So kam der Unternehmer Krauss von Schwaben nach Schwarzenberg und baute eine Fabrik, in der später die ersten Waschmaschinen aus Blech hergestellt wurden.
Aber das wissen wir ja bereits.
Kleines Mädchen mag kleinen Mann
Erreicht wird eine kleine, fast niedliche Burg, die Hartenstein oder auch Stein genannt. Seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts steht sie auf einem steilen Felsen über der Zwickauer Mulde. Sie sollte einen böhmischen Fernweg sichern, der von Altenburg über Zwickau durch das Erzgebirge führte. Ein romantischer und zu seiner Zeit wichtiger Bau zur Abwehr von Feinden, die in das Gebiet der Fürsten von Schönburg-Hartenstein, einer mächtigen Dynastie über Jahrhunderte, eindringen wollten. Das harte Gestein des Felsens frisst sich förmlich ins historische Gemäuer. Das ließ Hartenstein zu einem harten Stein werden. Das Erzgebirge ist nicht nur reich an historischen Bergwerken, sondern auch an Burgen. Klar – hier gab es viel zu holen auch ohne Schuften im Stollen. Doch hier befindet sich im wahrsten Sinne des Wortes ein Kleinod.
Klein ist die Burg. Doch sie beherbergt heute einige Spitzenprodukte. Die Spitze der vielfältigen Waffensammlung ist der sogenannte Gassenhauer. Dieses fast zwei Meter lange Schwert diente dazu, in gegnerische Formastionen auf dem Schlachtfeld Gassen zu schlagen. Der Name dieses grausamen Kriegsinstruments wurde in jüngerer Vergangenheit für Schlagerhits verwendet. „Schlager töten nicht, sie verletzen schlimmstenfalls die Ohren“, meint Mitfahrer Jürgen grinsend.
Etwas Besonderes gibt es im Burgturm zu sehen: eine Treppe aus dicken kantigen Balken, jeweils von 40 bis 50 cm dick, aus dem Holz der Weißtanne, einem Baum den es in der Region heute nicht mehr gibt. Diese Treppe ist kaum abgenutzt und einzigartig in Deutschand. In einer Kammer steht die Ganzkörper-Holzskulptur von Hans, einem Kleinwüchsigen, der sich beim Fürsten mit seiner 80-cm-Größe als Hofnarr verdingte. Er konnte die hohen Tannen-Holzstufen des Turmes selbständig nicht überwinden. Seine Frau musste ihn tragen, was sicherlich sein Selbstbewusstsein nicht stärkte, allerdings für bissige Scherze seinerseits sorgte. Beim Besichtigen empfindet ein kleines zweijähriges Mädchen sofort Sympathie für den Kleinen, herzt und küsst die hölzerne Figur aus dem Mittelalter.
Idyll
Nur wenige Schritte von der Burg Stein erwartet mitten im Wald das Romantik Hotel „Jagdhaus Waldidyll“ seine Gäste. Es macht dem Namen „Idyll“ alle Ehre und übererfüllt die Normen der Gruppe Romantik-Hotels. Angenehme Ruhe in jeder Hinsicht beruhigt den Gast rasch. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen – erste oder vordere Plätze bei Bewertungen von Tourismusunternehmen und Hotelführer – bezeugen die Qualität des Hotels im Ost-Erzgebirge. Vor vier Jahren erhielt das Hotel z. B. den 1.Platz als beliebtestes Hotel in Deutschland der Vier-Sterne-Kategorie. Das Hotel setzt auf Individualität, gehobene Gemütlichkeit, Gourmetspeisen mit mehr als einer Brise ‚Erzgebirge‘, gute Weine und Spitzenservice. Die Lage empfiehlt Ausflüge bis nach Dresden oder ins Böhmische, zu den verschiedenen Heilbädern diesseits und jenseits der Grenze Tschechien und Deutschland und selbstverständlich ins Ost-Erzgebirge – wie es die kleine Geburtstagsgruppe in einem Schnellkurs mit den Glöcknern Gerd Schlesinger und Jörg Eller absolvierte.
Resümee: das Erzgebirge hat der Welt nicht nur Räucherkerzen, Schwibbogen und Stollen gebracht, sondern auch das englische Königshaus, Waschmaschine und Autos. Und noch etwas: das Erzgebirge ist zu jeder Jahreszeit schön – nicht nur zur Fünften.
www.schwarzenberg.de
Fotos von Harald Schmidt: