Der Rote Ochsen in Heidelberg: Eine Reise durch Zeit, Tradition und Legenden

Von flackerndem Kerzenlicht, studentischem Frohsinn, Götz George und einer Hand, die Bismarck geschüttelt hat

Wer durch die kopfsteingepflasterten Gassen der Heidelberger Altstadt schlendert, der wird unweigerlich in den Bann der Geschichte gezogen. Hier, am Fuße des weltberühmten Heidelberger Schlosses, wo Dichter und Denker seit Jahrhunderten Inspiration suchten, gibt es ein Gasthaus, das so viel mehr ist als nur ein Ort zum Essen und Trinken: Der Rote Ochsen. Ein einstiges Studentenlokal, das lebt und atmet wie eine altehrwürdige Eiche, deren Wurzeln tief in die Vergangenheit reichen — und dessen Türen sich bis heute für alle öffnen, die ein Stück echte Heidelberger Seele erleben wollen.

Ich stehe vor der markanten roten Fassade in der Hauptstraße, einen Steinwurf vom Karlsplatz und der Heiliggeistkirche entfernt. Die Sonne taucht die Altstadt in goldenes Licht, und während draußen das Leben summt, verspricht der Eingang des Roten Ochsen eine Zeitreise. Ich drücke die Tür auf, und der Geruch von herzhaftem Braten und altem Holz empfängt mich wie eine warme Umarmung.

Ein Familienerbe seit sechs Generationen

Der Wirt des Hauses, Philipp Spengel, begrüßt mich freundlich — ein Mann, der nicht nur die Gastfreundschaft im Blut hat, sondern auch das Erbe einer über 180 Jahre alten Familientradition trägt. Sein Vorfahr Albrecht Spengel, ein Metzger, kaufte das Haus im Jahr 1839 für 11 300 Gulden. Damals war Heidelberg noch ein kleines Städtchen, und die Studenten der Ruperto Carola (die älteste Universität Deutschlands) füllten die Wirtsstuben mit Liedern, hitzigen Debatten und dem unverkennbaren Klang klirrenden Biers.

Der Rote Ochsen hat immer die richtigen Leute angezogen. Mark Twain hat hier gesessen, als er in Heidelberg weilte, um den Neckar zu bestaunen. Marilyn Monroe kehrte nach einem Filmdreh ein, und Götz George kam so oft vorbei, dass Philipp selbst ihm die Tür öffnete. Dessen Vater, Heinrich George, war Stammgast in diesem Lokal, die Geburtsanzeige seines Sohnes, Götz George, hängt ebenfalls im „Roten Ochsen“. 

„Diese Geburtsanzeige haben wir Götz George und seinem Filmteam zukommen lassen, denn er drehte damals einen Film über die Rolle seines Vater in Heidelberg,“ berichtet Philipp. Eines Tages spazierte Götz George dann durch die Tür des Roten Ochsen und suchte Philipp Spengel auf. Dieser berichtete dem Schauspieler, dass dessen Vater ein häufiger Gast in seinem Lokal gewesen war. Drei Bilder von ihm hängen heute noch an der Wand. „Als er das hörte, war Götz George fix und fertig“, berichtet Philipp Spengel dem Schauspieler. Dieser wollte nun wissen, woher der Heidelberger denn die Geburtsanzeige habe. Darauf erklärte ihm Spengel: „Die werden wohl Ihre Eltern meinen Großeltern geschickt haben: zu ihrer Geburt 1938.“ Götz George unterschrieb anschließend tief gerührt die Geburtsanzeige. Diese hängt nun als Kopie unter dem Bild seiner Eltern, Heinrich George und der Schauspielerin Berta Drews. Auch das Bild von von Mark Twain, das im Roten Ochsen hängt, ist handsigniert.

Die Wände, die Geschichten erzählen

Ich lasse meinen Blick durch die Gaststube schweifen. Überall hängen Lithografien, alte Bierkrüge und Trinkhörner. Die dunklen Holzbalken scheinen von Jahrhunderten ausgelassener Abende zu zeugen. Auch Biermünzen aus der Revolutionszeit von 1848 sind zu sehen. Philipp erzählt mir, dass die Münzen als praktische Zahlungsmittel eingeführt wurden und tatsächlich bis 1965 in Gebrauch waren.

Doch die wohl skurrilste Anekdote betrifft Karl Spengel, der liebevoll „Papa Spengel“ genannt wurde. Als er 1892 in Kissingen auf Otto von Bismarck traf und ihm die Hand schütteln durfte, kehrte er triumphierend nach Heidelberg zurück — und präsentierte stolz jedem Gast seine Hand: „Acht Tag wäsch ich mir die Hand nimmer! Die hat mir heute Bismarck geweiht.“ Noch heute hängt ein Brief von Bismarck in einer Ecke des Gasthauses. Wer genau hinschaut, entdeckt die vergilbte Tinte – ein stummer Gruß aus der Vergangenheit.

Essen wie anno dazumal

Doch der Rote Ochsen ist nicht nur ein Museum — er ist ein lebendiges Gasthaus. Und so setze ich mich an einen der geschichtsträchtigen Holztische, in denen viele Erinnerungen eingraviert sind, und lasse mir die Speisekarte bringen. Philipp Spengel steht hier nämlich noch selbst am Herd. Er ist ein Koch der alten Schule und weiß noch, wie gutbürgerliche Küche wirklich geht. Sie ist gleichzeitig eine Hommage an die alten Zeiten: Schäufele, Rindsrouladen mit Sauerkraut, Matjesfilet nach „Hausfrauen Art“, Odenwälder Mostbraten vom Rind mit Apfelweinsoße, Knödel und Rotkohl und kräftige Suppen, die so schmecken, als hätte die Großmutter sie gekocht, oder cremiges Waldpilzragout in Rahmsoße. Gekocht wird hier mit viel Zeit, Liebe und auch Butter. Die Weine „importiert“ Philipp Spengel gerne mal persönlich aus dem Schwarzwald. 

Und genau das schmeckt man. Während ich esse, lausche ich den Gesprächen um mich herum: Ein älteres Ehepaar erzählt von seinem ersten Date im Roten Ochsen in den 1950er-Jahren, wo Studenten Burschenschaftslieder sangen.

Zwischen Vergangenheit und Zukunft

Doch die Zeiten ändern sich. Philipp gibt zu, dass es nicht immer leicht ist, das Gasthaus weiterzuführen. Zwar strömen die Gäste nach wie vor ins renommierte Lokal mit bester Küche, doch nun wurden die Öffnungszeiten reduziert. Die Zeiten ändern sich. Die Corona-Pandemie, der Sparzwang der Gäste und die Inflation sind auch am Roten Ochsen, wo Philipps Mutter Ute Spengel noch bis 2022 kurz vor ihrem Tod mit 83 Jahren selbst die Gäste bediente, nicht spurlos vorbeigegangen. „Aber aufhören? Nein, das kann ich noch nicht“, sagt Philipp Spengel und schaut sich um. „Das hier ist nicht nur ein Gasthaus. Es ist mein Wohnzimmer, ein Zuhause. Für mich, für meine Familie — und für Heidelberg.“

Ich verlasse den Roten Ochsen erst spät am Abend. Draußen ist es inzwischen dunkel, die Altstadt liegt quirlig unter dem sternenklaren Himmel. Hinter den Fenstern des Gasthauses flackert weiter das Licht, und ich weiß: Solange Menschen sich nach echten Geschichten sehnen, solange jemand wie Philipp Spengel hier am Herd steht, wird der Rote Ochsen weiterleben.

Es ist ein Ort, an dem die Zeit stillzustehen scheint — und an dem man doch nie genug davon bekommt, die Stunden zu vergessen.

www.roterochsen.de

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Christiane Barth

Autor Kurzvorstellung:

Ich sammle Geschichten, die sich mir auf Reisen zeigen, füge die Einzelteile wie Puzzlestücke zusammen und erzähle sie weiter. Bin seit vielen Jahren als Reisejournalistin unterwegs.

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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