Es ist der 30. Verhandlungstag gegen Irmgard L, es ist der 14.September 2022. Angeklagt ist sie wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 19 000 Fällen in den Jahren 1943 bis 1945. Sie ist 97 Jahre alt. Sie hat, damals 18 Jahre alt, kein Gewehr in der Hand gehabt, sondern ein Schreibgerät. Sie war Chefsekretärin des SS-Mannes Paul Werner Hoppe im KZ Stutthof bei Danzig. Sie war es – nach Zeugenaussagen – gerne. 1954 heiratete sie einen SS-Mann, den sie noch vom gemeinsamen Dienst im KZ kannte. Auch zu ihrem früheren Chef, dem Lagerkommandanten, hielt sie nach dem Krieg Kontakt. Und auch zu jenem Mann, der die perfide als ärztliches Untersuchungszimmer getarnte Genickschussanlage in dem nationalsozialistischen Todeslager bei Danzig ersonnen hatte. Einen „Mordspezialisten“ nannte ihn der Historiker Stefan Hördler im Prozess. Auch heute wurde Irmgard L. im Rollstuhl aus ihrem Altersheim in den Gerichtssaal gebracht. Sie ist nicht in Untersuchungshaft, und würde auch nach einer Verurteilung nicht im Gefängnis leben müssen. Zuschauer gab es keine, Pressevertreter wenige, dazu das fünfköpfige Gericht, eine Staatsanwältin, einige Vertreter der Nebenklage, ein Verteidiger. Ein Gebäude der China Logistik im Gewerbegebiet, Vossbarg 1, weit weg vom Zentrum der Kreisstadt, hat man in ein Gerichtsgebäude umgewandelt. Geht es um Sühne, gar um Gerechtigkeit – oder ist es der verzweifelte Versuch, einem Land, das jahrzehntelange weggeschaut hat, eine historische Lektion zu erteilen?
Itzehoe ist eine der ältesten Städte Holsteins, 1238 vom Schauenburger Graf Adolf IV. gegründet. Sehenswürdigkeiten gibt es wenige, eigentlich nur die St.-Laurentii-Kirche mit ihrer Arp-Schnitger-Orgel und einer Aussichtsplattform, da 1657 die Schweden die Stadt fast vollständig zerstörten. Nur ein Teil des gotischen Kreuzgangs des Klosters blieb erhalten, die Touristeninformation organisiert auf Anfrage Führungen durch den Klosterhof, eine Oase in der modernen Innenstadt. Durch die Stadt fließt die Stör, aber sie wird nicht gesehen, es gibt keine Uferpromenade, keine Cafés. Immerhin entsteht jetzt mit der „neuen Störschleife“ Platz für einen naturnahen Freiraum. Bislang hatte man den Fluss, der bei Glückstadt in die Elbe mündet, zum Angeln genutzt.
Über die Zeit, um die es in dem Prozess gegen Irmgard L. geht, findet man wenig in Itzehoe. Im Internet wird sogar das Mahnmal gegen den Nationalsozialismus verschwiegen. Es gibt keinen Eintrag. Das Mahnmal ist Gyula Trebitsch zu verdanken. Am 2. Mai 1945 wurde der ungarische Filmproduzent von amerikanischen Truppen im KZ Wöbbelin bei Ludwigslust befreit. Kaum gesund, initiierte er mit anderen Überlebenden das erste Mahnmal für die Verfolgten des Nationalsozialismus, das im September 1946 in Itzehoe aufgestellt wurde. Er sagte dazu, dass es nicht nur für die Sieger sei, sondern für all die Menschen, die Widerspruch entwickelt hätten. Es sollte kein Kriegerdenkmal sein, keinen Gewinner präsentieren, sondern ein Zeichen der Versöhnung. Doch das Mahnmal war vielen äußerst peinlich. Es wurde mehrmals umgesiedelt, dann einem Park unter Bäumen versteckt. Doch wer sucht, der findet es, hinter dem Haus in der Breitenburger Straße 22, er findet darüber hinaus in Itzehoe das Germanengrab, Stolpersteine, Gräber der Zwangsarbeiter auf dem Friedhof Brunnenstraße.
Aber nicht nur mit dem Verstecken des Mahnmals und der Verlegung des Gerichtssaals in die Peripherie will die Stadt Abstand schaffen zur eigenen Vergangenheit. „DEIN Itzehoe?“ fragte das Stadtmanagement und mehr als 2200 Menschen haben geantwortet, es haben sich indes so viele für ein Auseinandersetzen mit der Geschichte eingesetzt, wie heute als Besucher im Prozess anwesend waren: Keiner.
Immerhin, Sicherheit und Sauberkeit sind für die Jugendlichen wichtig, weiß Stadtmanagerin Lydia Keune. Und mehr Taten, weniger Worte wollen sie. Bürgermeister Ralf Hoppe wird sich angesprochen fühlen. Jack Martin Händler, weltberühmter Dirigent, Violinist und Leiter eines Orchesters in Bratislava, hatte angeboten, mit einem Konzert dem Prozess eine andere Dimension zu geben. Seine beiden Eltern haben Auschwitz überlebt, seine übrige Familie die Todesmaschinerie nicht. Ralf Hoppe hat nicht einmal reagiert, und die Gesellschaft für die Geschichte Schleswig Holsteins auch nicht.
Man konnte das Landgericht noch so weit aus der Stadt herausverlegen, ohne im Ergebnis verschweigen zu können, dass bereits 1928 Adolf Hitler in Itzehoe auf eine treue Anhängerschaft traf. Hochrangige Repräsentanten des NS-Staates wie der schleswig-holsteinische Gauleiter und „Reichskommissar für das Ostland“ Hinrich Lohse und Kuno Friedrich Callsen, einer der Verantwortlichen für das Massaker von Babyn Jar, stammten aus der Gegend. Die „Schleswig-Holsteinische Tageszeitung“, die 1929 in Itzehoe gegründet wurde, war die erste nationalsozialistische Tageszeitung in der Weimarer Republik und existierte bis 1945.
Im Prozess gegen Irmgard L. geht es nicht um die Aufarbeitung der Geschichte Itzehoes. Diesem Thema galt ein zweijähriges Forschungsprojekt am Kreismuseum Prinzeßhof. Die Ergebnisse werden aktuell in einer Sonderausstellung gezeigt. Eine Publikation, die im Kreismuseum und im Buchhandel erhältlich ist, nennt Einzelheiten.
Sitzen die Richter auch nicht über Itzehoe sondern nur über Irmgard L zu Gericht, zeigt der Prozess, wie nahezu perfekt die Mordmaschinerie der Nationalsozialisten, dessen Rädchen gewesen zu sein ihr vorgeworfen wird, funktionierte, mit Kündigungs-und Versetzungsmöglichkeiten, mit Sozialleistungen und Krankenschutz. So könnte im Urteil festgestellt werden, dass Ingrid L. gerne ein funktionsnotwendiges Rädchen war, als die Todeslisten und die Zyklon-B-Gasbestellungen über ihren Schreibtisch liefen. Natürlich, so ihre Einlassung, will sie von alledem nichts mitbekommen haben.
Aber der Prozess zeigt auch, dass das ganze Land, damit auch Itzehoe, Teil der Mord- und Unterdrückungs-Maschinerie war, nahtlos integriert. Und wer sich vor den Bildern in Auschwitz schaudert und glaubt, dort Entsetzung und Schuld abladen zu können, der irrt. Es gab nicht nur Auschwitz, es gab Stutthof, Dachau, aber es gab und gibt Itzehoe und es gibt das ganze Land. Die Maschinerie funktionierte in vielen Teilen Europas. Es geht auch nicht um die Schuld von Irmgard L. Es geht um die Frage, was kann man an Erkenntnis gewinnen, wenn man eine alte Frau aus ihrem Heim nach Itzehoe vor ihren Richter karrt. Demnächst wird ein Wehrmachtsangehöriger vor Gericht stehen, der in einem Arbeitslager Gefangene zu Tode quälte. Es gab nicht nur KZs im Machbereich der Nationalsozialisten, es gab auch Arbeitslager, das ganze Land war Teil dieser Maschinerie – und das überwiegend auch gerne. Jedenfalls funktionierte es. Und warum stellt man nicht auch diejenigen vor Gericht, die dem erkennbar widerrechtlichen Befehl Folge leisteten, das friedliche Polen, Dänemark, Norwegen usw. zu überfallen? Wenn die Tätigkeit als Sekretärin in einem KZ als strafwürdig angesehen wird, warum blieb bislang die Tätigkeit eines Soldaten – im Angriffskrieg – außerhalb der Betrachtung? Denn das Berufen auf befürchtete Nachteile lässt die Justiz ja zunehmend nicht mehr als Entschuldigung gelten.
Und was bedeutet das für Itzehoe? Könnte man sich das Thema nicht zueigen machen? Historische Ehrlichkeit ist bestimmt ein Thema für junge Menschen. Und die Pflege der Erinnerungen ist so wichtig wie die Integration der Stör in die Stadt. Vielleicht kommt Jack Martin Händler ja zur Urteilsverkündung, wenn der Bürgermeister doch noch reagiert. DEIN Itzehoe ist auch das Itzehoe der Irmgard L.
BU: Das Mahnmal gegen den Nationalsozialismus in Itzehoe; Copyright: hhh