“Viele meiner Gäste sagen, es sähe hier aus wie auf dem Mond. Ich erwidere dann”, sagt Olivier Ribeyrolles, “wart Ihr schon einmal dort. Ich nicht.” Und er hat die Lacher auf seiner Seite. Ich schaue ihn an, lache nicht. Der Mond? Das ist für mich, der ich auch noch nicht dort war, ein lebloser Klotz Stein, der um die Erde kreist. Aber hier, der Meeresboden von Chausey, der bei Ebbe für den Menschen betretbar wird, das ist Leben, das ist ursprüngliches Leben.
Bild oben: Elefant auf Chaussey
Ursprünglich, das erklärt sich daraus, weil er sich bei jeder Ebbe neu und anders präsentiert, frei von menschlichen Spuren. Neu, weil neu geschaffen. Mal ist es Sand, über den wir laufen, bedeckt mit Muscheln und Schneckenhäusern, mal sind es Felsen, die überzogen sind mit Tang, dessen Farben wechselt von Schwefelgelb über Flaschengrün bis hin zu Dunkelgrau. Mal ist es ein flaches Wasser, durchsetzt von kleinen Inselchen, mal ist es Wattboden, wie ich ihn von der Nordsee kenne. Aber stets gibt es, anders als vom dem Marschland, wie ich es von der Nordsee kenne, einen dramatischen Rahmen. Schwarze Felsen begrenzen den Blick, viele haben Namen. Da gibt es den Elefanten, den Hund, die Affen. Und geht man durch die Begrenzung durch, wird der Blick frei auf unendliche Sandstrände, dahinter das Meer, das Kitesurfer für sich entdeckt haben. Irgendwo im Meer Jersey. Olivier Ribeyrolles läuft vor uns her, er kennt hier wohl jeden Fleck, jeden Priel, weiß, wo man die Hosenbeine hochziehen muss, damit sie nicht nass werden. Die Schuhe müssen ohnehin wasserresistent sein. Die Gruppe bekam sie am Ausgangspunkt, einem Schuppen auf der Hauptinsel von Chausey, der Grand Isle, gestellt. Die Inselgruppe besteht bei Ebbe aus 365, bei Flut aus 52 Inseln. Wir sind in 17 Kilometer Entfernung von Granville, der nächsten Stadt auf dem Festland, unterwegs.
Ich vertraute meinen alten Tennisschuhen. Olivier, ein bulliger Franzose, geht barfuß, die Muscheln scheint er nicht zu spüren. Er hat Geologie studiert, sein Fachgebiet ist die Sedimentologie, die Wissenschaft der Ablagerungen. ” 11000 Sandkörner habe ich hier zwischen den Inselchen und Felsen von Chausey analysiert”, erzählt er, “sie sind aus Granit und Quarz, nicht wie an der Küste der Normandie.” Der Grund: “Vor Millionen Jahren hing Chasey mal an England.” Der Granit von Chausey hat denselben Ursprung wie der Mont St. Michel: Magma das hochstieg, dann erkaltete. Er ist sogar bei Städtebauern bekannt. Mit ihm wurde der Boulevard Haussmann in Paris gebaut . Und vieles mehr.
Mag ja alles sein. Auch dass man vor 10 000 Jahren zu Fuß von der französischen Küste nach Chausey laufen konnte. Mich fasziniert das, was ich sehe und erlebe. Dass die Zeit hier auf dem Meeresboden für mich limitiert ist. Zwei Stunden nach Beginn der Ebbe darf die Wanderung begonnen werden, die etwa 12 Kilometer lang war, eine Stunde nach dem Tiefstand des Wassers geht der Weg zurück am alten Fort und dem Leuchtturm vorbei . Die Kapelle rückt wieder in den Blick, dann sind wir am Schuppen und im Restaurant.
Irgendwann bei dem elftausendsten Sandkorn muss Olivier sein Herz an Chausey verloren haben. Er lebt nicht auf der Insel, aber jeder der wenigen Einwohner kennt und grüßt ihn. Er wohnt in Granville, dem normannischen Städtchen, von dem die etwa 200 000 Touristen jährlich mit einem der drei Schiffe der Reederei “Les Isles Chasey” die 40 minütige Überfahrt unternehmen. Heute ist er Guide hier und Morgen Guide für den Mont Saint Michel . Seit mehr als 18 Jahren vermittelt er seinen Gästen unvergessliche Momente im Herzen des “Patrimoine Culturel et Naturel”, was man nicht übersetzen muss. Ebenso wenig wie die Begriffe “Émotion, Charme, Beauté, Énergie”, die oft während unseres Marsches auf dem Meeresgrund fallen.
Er trägt einen Rucksack, auf dem steht, dass er ein amtlich bestätigter Führer ist, und man solle keinesfalls, meint Olivier, diese Tour ohne ortskundige Begleitung machen. Dafür wirbt er. Denn mit 15 Metern bei Springflut sei der Tidenhub gewaltig. Die begehbare Fläche im Watt ist groß, markierte Wege gibt es nicht. Es kann Untiefen in den Prielen geben, man kann sich auch verlaufen, die Natur lockt immer weiter. Die Orientierungsmerkmale wie die Kapelle und die steinernen Monumente Elefant, Hund und Affen verschwinden schnell hinter anderen Formationen. Neben seinem Rucksack trägt er einen Köcher und einen Stock mit einer eisernen Spitze. Mit beiden lockt er Krebse und Fische, die sich vor der Ebbe unter Steinen und in Wassermulden in Sicherheit gebracht. Einen Hummer fangen wir nicht, auch das andere Getier lassen wir wieder ins Wasser. Beute zu machen war nicht unser Vorhaben, obwohl wir einige treffen, die mit diesem Ziel unterwegs sind. Der Fang ist nach Größe und Zahl der Tiere streng reguliert, und es wird auch überwacht. Gefangen werden in dem sauberen Wasser Riesengarnele, Hummer, Meeraal, Seebarsch, Seelachs, Meeräsche und Muscheln.
Nicht jede Tour hat die Dauer unserer, für Schulklassen, Gesellschaften, Familien und Einzelne schlägt Olivier jeweils eine Zeit und eine Route vor. Es gibt sogar Tagestouren. Wer will kann mit ihm auch eine Nachttour unternehmen. Dabei darf man ihm sagen, ob er erklären oder still sein soll. Wir hören ihm gerne zu, über die Wanderdünen, die Tiden und die Gefahren, die Pflanzen, die Tiere, vor allem Vögel, Basstölpel und Möwen, Robben, Delfine und die anderen Bewohner des Meeres. Natürlich kommen seine Spezialgebiete nicht zu kurz, die Geologie und die Sedimentologie. Viele wahre Geschichten und viele Legenden verknüpfen sich mit Chausey, was bei einer mystischen Insel naheliegt. Eine besagt, dass im Jahre 709 ein Hochwasser die Inselgruppe rund um die Grand Isle vom Festland getrennt hätte, viele handeln vom Streit mit den Engländern um die Insel. Aber das alte Fort ist längst in Privatbesitz und dient Wohnzwecken.
Obwohl die Inseln ein geschütztes Gebiet sind, gibt es Flächen, die genutzt werden, um Muscheln und Austern zu züchten, aber sie beeinträchtigen das Bild nicht. Sind die Touristen weg, leben nur 30 Menschen hier. Der Leuchtturm aus dem Jahre 1847 funktioniert automatisch, das Fort, das auf Geheiß Napoléon III erbaut wurde, beherbergte im Ersten Weltkrieg 300 deutsche und österreichische Gefangene . Während des Zweiten war eine Garnison der Wehrmacht untergebracht. Heute wird es von Fischerfamilien bewohnt. Das Haus “Marin Marie”, des Marinemalers und Seefahrers Paul Marin, das Schloss aus dem 1559, das von dem Industriellen Louis Renault restauriert wurde, ein Signalturm außer Betrieb, eine Farm ohne Bauern, dafür mit Feriengästen, die Kapelle, einige Strände, das Restaurant. Das war´s.
Mehr soll es auch nicht werden, sind sich der Eigentümer, eine private Immobiliengesellschaft, und die Délégation Régionale du Conservatoire de l’Espace et des Rivages Lacustres (Regionaldirektion zum Schutz des Raumes und der Küsten- und Seengebiete) einig. Olivier Ribeyrolles nickt dazu. Ich kann ihm nur beipflichten.
Information:
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