Blick hinter die Kulissen
Bregenzer Festspiele, Spiel auf dem See
18. Juli – 20. August 2018
Von Norbert Linz ///
Von weitem schon erkennt man in der Bregenzer Bucht die überdimensionalen fünfzehn Spielkarten, jede 30 Quadratmeter groß, die zwei riesige Frauenhände halten. Oder besser: die zwischen den rot lackierten Fingern fast schwerelos hin- und herzufliegen scheinen. 18 und 21 Meter hoch ragen die teilweise tätowierten Unterarme und Hände in den Bodensee-Himmel hinein. Wer genau hinschaut: Die über sechs Meter lange Zigarette glimmt und raucht wirklich!
Bild oben: Nach Sonnenuntergang – das Spiel auf dem See beginnt
Die britische Stardesignerin Es Devlin, die international Bühnen ausstattet für große Opernhäuser, aber auch für Adele und U2, hat dieses spektakuläre Bühnenbild entworfen. Sie spielt damit auf eine Szene im dritten Akt an, als Carmen, die stolze Zigarettendreherin aus Sevilla, die Karten zu ihrer Zukunft befragt und von ihrem bevorstehenden Tod erfährt. Die meisten Karten sind der Frau entfallen, liegen am Boden oder versinken im Wasser. Starke Symbolik: der unerschrocken resoluten Carmen entgleitet das Heft des Handelns.
Doch zurück auf Anfang: Die Oper „Carmen“ ist das Meisterwerk des französischen Komponisten Georges Bizet. Sie ist eine der am häufigsten aufgeführten Werke. Viele Arien sind zu bekannten Klassikern geworden. Die renommierten Wiener Symphoniker, von Anfang an seit 1946 das Festspielorchester, sind qualitätsvolle Interpreten.
Der Plot von „Carmen“ ist im Kern schnell erzählt: Die heißblütige spanische Zigeunerin Carmen liebt ihre Freiheit und einen Mann nur so lange, bis der nächste kommt. Der in sie verliebte Sergeant José begeht ihretwegen Fahnenflucht. Doch bald wendet sie sich dem Star-Stierkämpfer Escamillo zu. José tötet Carmen in blinder Eifersucht.
Der europaweit gefragte dänische Regisseur Kasper Holten erzählt dieses berühmte Liebesdrama der Musikgeschichte als schicksalsschweres Glücksspiel zweier Außenseiter, die aneinander zugrunde gehen: in traditioneller Personenführung, aber mit hohem Schauwert. Dabei hat der See seine Rolle. Etwa, wenn Carmen sich nach einem handfesten Streit der Verhaftung entzieht durch einen beherzten Sprung ins Wasser und flott außer Reichweite krault.
Die französische Mezzosopranistin Gaëlle Arquez, die führende der drei Carmen-Darstellerinnen, erzählt, dass sie auch in ihrer Freizeit gern im Bodensee schwimme. An ihrer Figur mag sie vor allem deren anarchische Art, die keine Gesetze kenne, nur ihrem Instinkt vertraue. Mit Regisseur Kasper Holten hatte sie bei den Proben eine großartige Zusammenarbeit. Er war sehr offen, sie konnte die Figur der Carmen mit eigenen Ideen mitentwickeln. Draußen auf dem See zu singen, mache großen Spaß. Überrascht war sie, wie sehr das Wasser die Stimme trägt.
dann mit dem Soldaten José (Daniel Johannson), der sich in sie verliebtDie Rolle des José, ihres Hauptpartners, singt der Wiener Tenor Daniel Johannsen. Seine Beobachtung zur Seebühne, der größten ihrer Art weltweit: Das riesige Bühnenbild zwinge dazu, große Schritte zu machen und zu springen. Diese Action mache die inneren Kämpfe der Figuren körperlich sichtbar.
Regisseur Kasper Holten staunte, dass die Entwicklung einer Inszenierung auf der Seebühne komplett anders ist als alles bisher produzierte. So könne sich der Wasserspiegel des Bodensees während des Sommers um Meter verändern. So war ein Bühne notwendig, die bei unterschiedlichen Höhen funktioniert. Vor allem, wenn man unbedingt mit dem Wasser arbeiten möchte. Und was fasziniere ihn an der „Carmen“? Man müsse eine Figur wählen, mit einer wirklichen Seele, mit Träumen und Ängsten. Ihn interessiere es, Carmens verlorene Unschuld zu finden.
Die zum Teil über 20 Meter hohen Spielkarten bieten für den Regisseur jede Menge Chancen, die Geschichte bildgewaltig zu erzählen. Die Karten werden zu vielfältigen Projektionsflächen mit frappierenden Effekten: Es leuchten Herz oder Karo auf, schwarz oder rot. Mit Überblendung folgen Porträts von Carmen und José, mit Live-Kameras aus dem Bühnengeschehen herausgepickt.
Während unten auf der Bühne Carmen und José ihre Konflikte in Duetten austragen, kraxeln die Schmuggler-Freunde von Carmen mit ihrer Ware auf den Karten herum. Und Micaëla, die eigentliche bisherige Freundin von José, hat ihren abenteuerlichsten Arienauftritt in gut 20 Meter Höhe auf der Spitze des Kartengebirges. Dann seilt sie sich furchtlos Karte für Karte ab bis zum Bühnenboden – so meint man. Nein, dies besorgt dann ein Double, eine Stuntfrau vom Wired Aerial Theater aus London.
Natürlich wird der Bodensee bei jeder Inszenierung einbezogen. Diesmal: beim wilden Tanz der Zigeunerinnen in der Bar von Lillas Pastia am Bühnenrand senkt sich nach und nach der Boden und die Veranstaltung wandelt sich zum gischtspritzenden Wasserballett. Wie kann es anders sein: Die Schmuggler transportieren ihre illegale Waren lautlos in Kähnen ab. Doch der eitle Torero Escamillo fährt, deutlich hörbar, mit einem Motorboot vor. Wenig später werden zu seinem Sieg in der Arena Salven von Feuerwerksraketen in den Bregenzer Nachthimmel geschossen.
Auch das tödliche Finale findet im See statt. Eigentlich sollte José laut Libretto die Carmen erstechen, doch hier drückt er sie nach einem allerletzten Kuss unter Wasser. Eine grandiose Szene. Doch bald kommt der Schrecken: Carmen bleibt unendlich lang unter der Wasseroberfläche. Kann sie so lange die Luft anhalten? Sicher nicht! Mit vorgehaltener Hand wird einem von der Kostümabteilung des Rätsels Lösung zugeraunt: Unter dem Kleid trägt die Sängerin einen Neoprenanzug. Im Kleid ist eine Sauerstoffflasche versteckt. Der Mundschlauch befindet sich hinter einer Rose auf dem Kleid. In Rekordzeit muss Carmen dann das Kostüm wechseln für den anhaltenden Schlussapplaus – die Gefahr einer Erkältung wäre zu groß.
Ein Blick hinter die Kulissen zeigt Chancen und Besonderheiten einer Oper am Wasser – großer Respekt vor der Sängerin, die diese Szene nicht doubeln lässt.
Infos:
29 Aufführungen zwischen 19. Juli und 20. August, Beginn 21 Uhr 15, ab 1. August 21 Uhr; Dauer: 2 1/4 Stunden, keine Pause.
Kartenbestellung: 43 5574 407-6 oder online: https://ticket.bregenzerfestspiele.com
Allgemeine Infos: www.bregenzerfestspiele.com
Preise: So. – Do. billiger: 30 – 135 €, Fr. 40 – 145 €, Sa. 50 – 155 €. Karten der Kategorie 1 und 2 (Aufdruck: „gültig für See + Festspielhaus“) berechtigen auch zum Besuch der Oper im Festspielhaus, falls aus Wettergründen das Spiel auf der Seebühne abgebrochen wird. Der Wert der restlichen Karten wird rückerstattet.
Gegebenenfalls wird auch bei Regen weitergespielt. Warme und regensichere Kleidung ist empfehlenswert. Wegen Sichtbehinderung keine Regenschirme!
Die Großparkplätze sind gebührenpflichtig. Bei fast 7000 Besuchern ist wegen des unvermeidlichen Staus eine frühzeitige Anreise notwendig.
Anreise mit dem Schiff „MS München“:
ab Lindau 19.30 bis zur Seebühne und zurück, 22 € incl. Aperitif an Bord.
Führungen auf der Seebühne (sehr lohnend!): während der Festspielzeit täglich jede Stunde von 10.30 bis 15.30. Preis: 7 €. Frühzeitige Buchung empfehlenswert: telefonisch oder online siehe Kartenbestellung.
Gastronomiezelt mit reichhaltigem Buffet + A-la-carte-Restaurant „buehnedrei“.
Das Copyright für alle Bilder liegt bei den Bregenzer Festspielen