„Capri ist eine Insel für Snobs.“ Und weil ich nicht zustimme, bekräftigt die Kritikerin, eine charmante und redselige 50jährige Signora, ihre Feststellung mit der Bemerkung, sie müsse es wissen, sie käme aus Neapel, sei regelmäßig hier zu einem Kongress. Nun gut, wir sitzen in unmittelbarer Nähe der Piazzetta, die eigentlich Piazza Umberto I heißt, in Capri Centro in der Bar Funicolare, haben einen wunderschönen Blick auf einen dicht und bunt bebauten Berg und über das Meer bis nach Ischia und Procida. Und im übrigen, fügt die Signora hinzu, wenn es mich interessiere, Italien sei deswegen so am Boden, weil es eigentlich alles in der Welt erfunden und erschaffen hätte. Ich sollte nur einmal die Museen und Galerien in Paris und London besuchen. Die Fähigkeit der Italiener zur Innovation sei aber leider jetzt aufgebraucht.
Bild oben: Augustus und die Faraglioni
So hatte ich das noch nie gesehen. Und aus meiner Ignoranz ziehe ich die einzig mögliche Konsequenz und ziehe mich demütig zurück – aus dem Gespräch und von der Piazzetta.
Der Snob-Vorwurf war mir nicht neu. Er hat damit zu tun, dass Capri eine (mindestens) dreidimensionale Insel ist. Zur Fläche kommt die Höhe – und damit auch die Tiefe hinzu. Wer von der Grande Marina, dem Hafen, ins Zentrum will, muss nicht nur wenige Kilometer gen Osten laufen, sondern auch noch einige Meter gen Himmel. Gut, es hilft inzwischen eine Zahnradbahn, wenn man sie findet. Aber wer zu den Felsen, den Faraglioni will, um eine der Attraktionen zu nennen, der muss steigen, auf und ab – und das zu Fuß. Daher, und weil die meisten Capri-Besucher Tagesgäste sind, die mit der Fähre von Neapel morgens kommen und abends verschwinden, und dies oft tun, weil die Unterkünfte hier gut doppelt so teuer sind (die Verpflegung auch) wie auf dem Festland, quellen sie aus den Schiffen, drängeln sich in die Funicolare, rufen auf der Piazetta „ah“ und „oh“ vor Begeisterung in ihre selfiefähigen Handys und schlendern dann nach einem Café-Besuch durch die ebenerdigen Einkaufsstraßen.
Dann haben sie Capri „gemacht“ und bestätigen ihre neu erworbene Kennerschaft mit der kritischen Beurteilung: „Insel für Snobs“.
Dass dieses Verdikt nicht stimmt, liegt auf der Hand. Es zu korrigieren heißt jedoch, die Dreidimensionalität zu akzeptieren. Es geht eben bergauf, wenn man zur Villa Lysis des Fürsten Fersen will oder zur Villa Jovis des Kaisers Tiberius. oder zur Casa come me des Schriftstellers Curtius Malaparte oder, oder. Zum Glück gibt es einen direkten Weg von Baron Jacques d’Adelswärd-Fersen zu Kaiser Tiberius Iulius Caesar Augustus, der als „mittelschwer alpin und nur mit Bergschuhen“ begehbar bezeichnet wird, was nicht stimmt. Aber wenn man damit Wanderer in Flipflops abschrecken will, ist das ok. So kann man sich einiges an Weg sparen. Aber unvermeidbar geht es bergab, wenn man zu Füßen der Faraglioni ein Bad oder auch nur einen Cappuccino im Ristorante Fontelina nehmen will. Wir hatten das Glück, dass ein freundlicher Matrose uns später einen Transport zur Marina Piccola für preiswerte 6 Euro pro Person anbot.
Der Lohn der ausgedehnten Fußmärsche ist gigantisch. Ohne zu diskutieren nehme ich sowohl den Blick von der Villa Lysis über das Meer nach Sorrent und zur Amalfitana, als auch den auf der anderen Seite an dem Knaben vorbei, der seinen von einem Krebs gezwickten Fuß betrachtet auf die Grande Marina in den Kreis meiner schönsten Ansichten auf. Und sowohl hinter den Personen Fersen als auch hinter Tiberius taucht eine neue, faszinierende Dimension auf. Warum kamen sie nach Capri? Der eine im Jahre 1903 aus Paris, der andere im Jahre 27 nach Christus aus Rom. Geschichte und Geschichten tauchen auf, die einen lange auf der Insel festhalten könnten. Und all die anderen, Malaparte, Krupp, oder Axel Munthe, Arzt und Dichter, dessen Villa in Anacapri zu besichtigen ist. Alle haben ihre Story. Zahlreicher noch sind die Geschichten derjenigen, die sich hinter den Mauern und Toren ihrer Anwesen verstecken oder der Gebäude, deren Charme sich in ihrem Verfall dokumentiert, wie die Villa Moneta des neapolitanischen Malers Carlo Siviero.
Nach Anacapri fahren wir mit dem Bus. Denn dort wollen wir nicht nur Axel Munte, den Autor von „das Buch von San Michele“ , und die gleichnamige Kirche mit ihrem weltberühmten Majolikaboden besuchen, wir wollen mit dem Einer-Sessellift auf den Berg, den Monte Solaro, weil es von dort unglaublich schöne Ansichten gibt, unter anderem auf die Faraglioni, die unter dem erhobenen Arm einer Augustus-Statue auftauchen, wir wollen zum Leuchtturm, dem Faro di punta Sarena, und zum Sonnenuntergang in die Liegestühle der Maliblu Sunset Bar. Und eigentlich sind wir ganz dankbar, dass die Blaue Grotte gesperrt ist, denn die Aufnahmefähigkeit auch für das Schöne kann sich erschöpfen. Zudem sind Busfahrten mit Bedacht zu planen. Da die Busse größenmäßig den schmalen Straßen angepasst sind, ist auch ihre Aufnahmekapazität beschränkt. Es kann also sein, dass man in der Warteschlange auf den nächsten warten muss – wenn er kommt.
Nachts zu Fuß zurück von Anacapri zum Hotel an der Grande Marina, das ist möglich, beschreibt aber eine Dimension, auf die wir gerne verzichtet haben.