Besuch bei den ersten Hippies

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Säen statt shoppen. So war das Hippieleben bei Ascona. Quelle: Stiftung Monte Verita
Säen statt shoppen. So war das Hippieleben bei Ascona.
Quelle: Stiftung Monte Verita

 

Eine Zeitreise für Individualisten. Am Monte Verità bei Ascona haben sich vor hundert Jahren frühe Aussteiger mit Tanz und geistvollem Nichtstun die Zeit vertrieben.

Der Berg ist gar kein Berg. Wer in Ascona nach dem Monte Verità fragt, der hat gute Chancen, von Einheimischen über den tatsächlichen Charakter des Berges der Wahrheit gleich aufgeklärt zu werden. Vergessen Sie das mit dem Berg. Das ist nur ein kleiner Hügel. So lauten die typischen Reaktionen. Rechts und links des Lago Maggiore steigen mächtige schneebedeckte Gipfel in den Himmel hinauf. Und dann ist der berühmteste Berg der Region um Ascona und Locarno eine schmächtige Erhebung mit gerade mal 150 Höhenmetern Unterschied, den man als Ortsfremder noch dazu kaum wahrnehmen kann, weil er auch nur spärlich beschildert ist. Dabei ist der Monte Verità ein Paradiesvogel inmitten dieser wohlbehüteten großbürgerlichen Idylle.

Es begann damit, dass sich zur Jahrhundertwende der belgische Unternehmersohn Henri Odenkoven und die deutsche Pianistin Ida Hofmann auf dem Monte Modescia bei Ascona nieder ließen, um dort ein Modell eines neuen wahrhaftigeren Lebens zu realisieren. Sie nannten den Hügel Monte Verità, auf dem sie sich dem Leben in und mit der Natur widmeten, Gemüse anbauten, vegetarisch lebten und auch sonst alternative Ideen umsetzen wollten. Diesen Plan hatten auch die Brüder Gusto und Karl Gräser, die zu den ersten Mitbewohnern gehörten. Vor allem der Künstler und Freigeist Gusto Gräser hatte ziemlich fundamentalistische Vorstellungen, die auf jeglichen Komfort verzichteten und ein auch in beziehungstechnischen Aspekten eine sehr freie Lebensweise favorisierten, während Oedenkoven und Hofmann eine Art Heilanstalt für Liebhaber natürlicher Lebensweise führen wollten. Hier der anarchische Fundamentalismus, dort die gehobene wohlfeile Selbstverwirklichungstherapie. Das sollte bald für Spannungen sorgen. Unten im Tal bescherten vor allem die ziemlich avantgardistischen Aktivitäten beim hüllenlosen Ausdruckstanz starkes Aufsehen. Die Sommerkurse leitete der bekannte ungarische Choreograf Rudolf von Laban, der auch Kurse für ganzheitliches Denken anbot. Eine Malschule wurde gegründet. Dadaisten pilgerten hinauf zur Kolonie. Abenteurer und Anthroposophen versuchten sich am Berg der Wahrheit, was das Zusammenleben nicht einfacher machte. Gusto Gräser zog sich zeitweilig in eine Höhle zurück, weil es ihm am Monte Verità zu konventionell war. Er war eine der schillerndsten Figuren, brachte Hermann Hesse auf den Hügel, der kurze Zeit auch in seiner Höhle mit wohnte. Dort widmete sich Gräser vor allem seinen Mondscheintänzen im Wald. In Hesses frühem Roman Demian spielte der Monte Verità eine nicht ganz unwichtige Rolle. Die Kolonie bei Ascona wurde zur Attraktion und zur Inspirationsquelle. Dort hat der österreichische Psychiater Otto Gross seine Theorie zur sexuellen Revolution verfasst, der Philosoph Ernst Bloch war auch dort und holte sich offensichtlich Anregungen für seinen „Geist der Utopie“. Der junge Oskar Maria Graf landete am Monte Verità und war offensichtlich nicht nur positiv beeindruckt. Später schrieb er von den Vollblutpflanzenfressern, die sich mit Nacktkultur und freier Liebe beschäftigten und wo an allen Bäumen Propagandazettel in Versform klebten. „Aber wehe, wer nach Seife roch“, erinnerte sich Graf wenig begeistert.

Auch bei den ersten Aussteigern war Outdoor gefragt

1911 machte sich Gusto Gräser auf den Weg und reiste mit Frau und sechs Kindern im selbstgebauten Wohnwagen durch Deutschland. Ida Hofmann und Henri Oedenkoven zogen 1920 nach Brasilien und gründeten dort eine neue Kolonie, die sie Monte Sol, den Sonnenberg, nannten. 1926 übernahm der wohlhabende deutsche Bankier und Kunstsammler Eduard von der Heydt den Monte und ließ ganz oben vom Architekten Emil Fahrenkamp ein Hotel im Bauhaus-Stil errichten. Von der Heydt verwandelte den Monte Verità nun in einen Treffpunkt der besseren Gesellschaft, was bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs anhielt. Die starke Präsenz hochkarätiger Künstler und Geisteswissenschaftler von Hermann Hesse über Paul Klee bis C.G. Jung zog auch allerhand Prominente aus anderen Lebensbereichen an. Der Hochadel suchte dort ebenso Inspiration wie Politgrößen. In der Gästeliste finden sich der belgische König Leopold, der Schauspieler Heinz Rühmann und Konrad Adenauer. Der verbrachte als amtierender Bundeskanzler im Frühjahr 1956 seine Ferien auf dem Berg, wurde bei der Anreise von jungen Tessinerinnen begrüßt und stattete sein Zimmer mit mitgebrachten Kunstwerken aus. Wegen des Trubels am Berg flüchtete er zum Wandern in stille Seitentäler.

Nach dem Tod von Eduard von der Heydt, der einerseits wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus umstritten, aber auch Ehrenbürger von Ascona war und mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, ging der Monte Verità 1964 gemäß seiner testamentarischen Verfügung auf den Kanton Tessin über. Bedingung dafür war, dass er für „künstlerische und kulturelle Aktivitäten von internationaler Ausstrahlung genutzt werden muss“. Seit mehr als 20 Jahren ist der Berg ein Kongress- und Kulturzentrum, hinter dem eine Stfitung steht, an der auch die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH) beteiligt ist. Mit dem Literatur Festival „Utopien und herrliche Obsessionen“ soll nun gute 100 Jahre nach den Aussteigern und Utopisten der Berg wiederbelebt werden, was wohl weniger mit idealistischen Ambitionen zu tun haben dürfte, sondern damit, dass der Tourismus Impulse in der Region erhalten soll, was auch den Termin in der Nebensaison erklärt. Dafür reiste auch intellektuelle Prominenz an den Lago Maggiore, um sich auf recht unterschiedliche Art dem Utopismus zu nähern, darunter Peter Sloterdijk und Hans Magnus Enzensberger. Es wurde dabei viel diskutiert und referiert, was denn Utopien ausmache und wie sie sich von Visionen und Fantasien unterscheiden. Neue Utopien drängten sich dabei nicht auf.

Die Frage, ob eine solche Oase der Aussteiger, der Träumer und Utopisten heute eine Berechtigung oder gar eine echte Überlebenschance hätte, ist auch naheliegend. Theoretisch wäre das wohl gar nicht so abwegig, wenn man sieht, wieviele Menschen heute Magazine kaufen, die sich ausschließlich mit dem Leben in der Natur beschäftigen und wie sehr die nicht mehr enden wollenden Lebensmittelskandale den Zorn und auch das Gefühl der Hilflosigkeit bei den Menschen schüren. Vor Ort in Ascona wäre eine Neuauflage des ökologischen Utopismus wohl schwer vorstellbar. Der unscheinbare Hügel ist vollgepflastert mit teuren Villen und Appartementhäusern, zwischen denen enge Stiegen und kurvige Straßen ihren Weg nach oben suchen. Gerade Ascona ist heute geprägt von seinem wirtschaftlichen Wohlstand. Millionenschwere Immobilien füllen die steilen Hänge am See. Unten im Ort stehen hochklassige Hotels direkt am Seeufer, vor denen glitzernde Bentleys und Range Rover parken. Immerhin ist das Terrain rund um das Kongress- und Kulturzentrums noch weitgehend unbeschadet, wo sich schmale Fußwege durch das dicht bewachsene Gelände schlängeln. Von der Casa Giovanna zieht sich der Weg hinauf bis zum Haus der Russen, dessen Name von den vielen russischen Studenten zur Blütezeit der Kolonie kommt. Über schmale Stufen geht es links weiter hinauf zur Casa Anatta, die zur Zeit renoviert wird und später das Museum beherbergen soll. Die Casa Anatta wurde 1902 gebaut und war das Wohnhaus von Henri Odenkoven. Geradeaus führt der Weg zu der im Jugendstil gebauten Villa Semiramis. Dort sind es links nur noch wenige Schritte zum Hauptort des Monte Verità mit dem Kongresszentrum und dem Hotel, das um ein üppig verglastes Restaurant erweitert wurde. Etwas abseits warten noch einige kleinere Pretiosen aus der Vergangenheit wie zum Beispiel der Tennisplatz, das einstige Schwimmbad, das heute für Theater- und Musikaufführungen genutzt wird und das seinerzeit schon beheizt wurde. Nebenan sind der Kräutergarten und das Teehaus, in dem Zeremonien mit dem selbst angebauten Tee angeboten werden. Bei diesem kurzen Spaziergang wächst das Verständnis dafür, dass die Leute in der Kolonie über die Art des Paradieses sehr unterschiedliche Vorstellungen hatten und es sowohl Puristen als auch wohlhabende Söhne und Töchter gab, die bei der Kasteiung in der Natur auf gewissen Komfort nur ungern verzichten wollten.

Avantgarde und utopistische Lebensformen sind heute nur noch Teil der Geschichte und eine Art nostalgischer Attraktion. Heute bestimmt eine professionelle Geschäftsmäßigkeit die Atmosphäre, parken die Autos vor dem üppig verglasten Bauhaushotel, wo man sich vornehmlich mit Kongressen und vor allem ernsthaften Themen beschäftigt. Der Monte Verità soll ein bedeutendes Kulturzentrum sein. Allerdings auf seriösere Art und nicht nach den spontanen Ideen von Weltverbesserern. Es laufen zahlreiche Renovierungsarbeiten, berichtet Lorenzo Sonognini, der Direktor des Zentrums, die bis 2015 abgeschlossen sein sollen. „Mit der Finanzierung sieht es derzeit auch gut aus“, ergänzt er. Neben der Casa Anatta werden auch die Casa Selma und die Casa Selma renoviert. Es wird dann auch einen Media Guide geben, der die illustre Geschichte des Ortes aufwändig dokumentiert. „Wir wollen hier Wissenschaft, Kunst und Geschichte zusammen bringen“, verspricht Direktor Sonognini. Für den Herbst ist auch ein Rudolf von Laban Tanzevent geplant. Das textilfreie Tanzen wie früher wird es wohl nicht geben.

Informationen:
www.monteverita.org

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Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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