Denk ich an Bautzen in der Nacht. Um den Schlaf bringt mich das nicht, aber zwei Dinge springen ins Bewusstsein, die auch nicht angenehm sind: Das ist die rechte Szene, von der man ständig hört, das andere ist Bautzen II, das Stasigefängnis. Aber wenn man eine Reise macht, so fügen sich zuallererst frische Bilder in die eigene Gedanken- und Vorstellungswelt, und sei diese noch so umnachtet. Gruß an Heinrich Heine an dieser Stelle.
18 Türme und eine Burg, wundersam erhalten
Und nähert man sich Bautzen, so nähert man sich einer Stadt mit 18 Türmen und einer Burg, der Ortenburg, die alle wundersam erhalten und wunderschön sind, dazu umflossen von der Spree. Also gilt nach dem Ausstieg aus dem Zug erst einmal ein herzliches Willkommen der oft so missverstandenen Stadt oder ein „Witaj´ce k nam“, um den Sorben gerecht zu werden, die ebenfalls in Budyšin leben. Denn Bautzen, Hauptstadt der Oberlausitz, ist das kulturelle und politische Zentrum der Sorben, des kleinsten slawischen Volkes. Es zählt insgesamt etwa 60 000 Menschen. Hier gibt es sorbische Schulen, einen sorbischen Kindergarten, ein zweisprachiges Theater, ein Kulturhaus. Etwa 5 bis 10 Prozent der 37 000 Köpfe zählenden Stadtbevölkerung bezeichnen sich heute noch als Sorben. Wo heute die Ortenburg die Spree überragt, stand einst die Stammesburg der slawischen Milzener, der Vorfahren der Sorben. Die Stadt pflegt ihre deutsch-sorbische Kultur und Geschichte. Alle Straßen, Plätze und öffentliche Einrichtungen sind zweisprachig beschildert.
Wir stehen leider nicht zur Osterzeit vor dem Bahnhof auf dem Rathenauplatz. Denn dann gibt es Märkte, auf denen man verzierte Ostereier und die traditionellen Trachten der Sorben mit ihren weißen Hauben bewundern kann. Wir haben das Gepäck in der Pension untergebracht und wollen nun zu Fuß die Stadt erkunden. Dass das Gefängnis zu unserer Rechten liegt, wissen wir, aber wir wollen uns die Stimmung nicht gleich zu Beginn verschatten lassen. Ziel ist die „Neue Wasserkunst“, weil man von dort einen Blick über die Spree hat und dann die Altstadt vom Westen aus erschließen kann. Wir laufen die Bahnhofstraße hoch und kommen zum Sorbischen Institut. Was auffällt ist die Sauberkeit der Straßen und dass viele Gebäude der Jahrhundertwende eine neue Verwendung gefunden haben, wie eben das Sorbische Institut oder das Landratsamt.
Dort, im Institut, erfahren wir, dass sich die Mitarbeiter vor wenigen Tagen am Bautzener Firmenlauf beteiligt haben und dass man eingeladen sei, sich an „sorabistischer Forschung“ zu beteiligen, und zwar in den Sprachen Dolnoserbski und Hornoserbce. Ferner meint ein Mitarbeiter, der uns die Türe geöffnet hatte, er könne uns eine Ausstellung in Kamenz empfehlen. Sie heißt: „Die Freiheit winkt! Die Sorben und die Minderheitenfrage nach 1918“. Ich wusste nicht, dass nationale Unabhängigkeit ein Thema nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gewesen wäre. Ich weiß nur, dass die Sorben selbst regional sehr unterschiedlich sind, auch in ihrer Sprache, die im Norden dem Polnischen und im Süden dem Tschechischen ähnelt. Bautzen beginnt, so will es die Sage, an einer Stelle, wo die reisende, schwangere Herzogin haltgemacht und überraschend ihr Kind zur Welt gebracht hat. Der dazukommende Gatte fragte sie: „Bude syn?“ (Wird es ein Sohn?).
Sorben, ihre Geschichte, ihre Namen
Die Geschichte der Sorben beginnt – kein Märchen – mit der Völkerwanderung, als etwa 20 sorbische Stämme das Land besiedelten. Es bürgerten sich der Name Sorben für die Oberlausitzer und der Name Wenden für die Niederlausitzer ein. Dieser Name hat heute einen bösen Klang wegen der „Wendenabteilung“, einer von 1920 bis in den Zweiten Weltkrieg hinein bestehende Behördenstelle in Bautzen zur Überwachung und zur „Förderung des Aufgehens der Wenden im Deutschtum“. Die Nationalsozialisten setzen die Tätigkeit der Wendenabteilung fort. Es gab viele Tote, darunter Alois Andritzki, ein Priester und entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Er wurde 1943 im Konzentrationslager Dachau ermordet.
Und diese Behörde hatte ihren Sitz im heutigen Landratsamt, dessen Fassade wir soeben bewundert hatten.
Hinter dem Philipp Melanchton Gymnasium biegen wir links in die Schiller-Anlagen ab, an deren Ende wir schon hinter dem Alten Zollhaus den Turm sehen, der die „Neue Wasserkunst“ beherbergt. Er war eine Anlage zur Wasserversorgung der Stadt, heute ist er ein besuchenswertes Museum und ein Blickfang, da er direkt an der Spree und neben der Michaeliskirche liegt.
Vorher statten wir dem Deutsch-Sorbischen Volktheater einen Besuch ab, das unweit der Schilleranlagen an der Seminarstraße liegt. Es war im Herbst 1989 eine Stätte der friedlichen Revolution. Am 8. Oktober 1989 traten die Schauspieler nach dem Ende der Vorstellung „Amadeus“ geschlossen vor ihr Publikum. „Wir treten aus unseren Rollen heraus“, hieß es auf einem Plakat, und die Forderungen nach Demokratie und Meinungsfreiheit wurden vorgetragen.
Dies wird uns bereitwillig von einer Mitarbeiterin erzählt, und dass schon vor 600 Jahren hier Theater gespielt würde. Wir sollten auch das neue Burgtheater besuchen. Leider hätte man nicht mehr Zeit für uns, weil im Haus gerade eine Konferenz unter dem Motto „Giving Minority Languages und Voice“ stattfände. Aber der Bautzener Theatersommer 2023 sei noch nicht vorbei, und es gäbe noch Karten für „The Addams Family“ im Hof der Ortenburg.
Wir danken, ohne etwas zu versprechen. Dann laufen wir unter dem Schloss die Spree entlang bis zum Sorbischen Museum. Es ist ein stattliches, beiges Gebäude aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort, so scheint es, werden wir schon erwartet. Vermutlich hat der Mitarbeiter des Sorbischen Instituts angerufen und gesagt, da kämen welche, die überhaupt keine Ahnung hätten.
„Čej´ da sy? Wurzeln im Wandel“ heißt ein Film, den wir uns zur Begrüßung ansehen dürfen. Die Besichtigung der gleichnamigen Ausstellung folgt, was nur zur Nachahmung empfohlen werden kann. Gezeigt wird uns das jüngste Exponat, der Reisepass zur Auswanderung in die USA, aus dem Jahre 1854. Der Landbauer Jacob Pampel aus Neudorf bei Guttau wollte ursprünglich seine Heimat verlassen. Er blieb dann doch. Grund unbekannt.
Das Senf-Mango-Eis
Hoch geht’s zur Ortenburg. Als „Castrum Orthenburg in Budissin“ wird sie erstmals 1405 erwähnt. Die Markgrafen von Meißen bauten sie aus, dann war sie Sitz der Landvögte der Oberlausitz und gehörte zu den Ländern der böhmischen Krone, bis sie 1635 an Kursachsen überging. Heute ist die Ortenburg Sitz des Sächsischen Oberverwaltungsgerichtes. Besichtigen konnten wir sie nicht und zogen weiter zum Gersdorffschen Palais und zur Senfstube. Dort rasteten wir um Garten und bestellten uns einen Bautz’ner Senfbraten mit Sauerkraut und Böhmischen Hefeknödeln. Der war gut, zum Nachtisch hätten wir uns Senf-Mango-Eis im Sahnewindbeutel bestellen können, aber irgendwo hat Recherche auch ihre natürliche Grenze. Ein Bautz´ner Kupfer, ein Bier vom Fass, tat es auch.
Zum Glück waren es zum Dom St. Petri nur wenige Schritte. Wir waren erschöpft. Er ist eine der größten Simultankirchen Deutschlands, das heißt, er ist Glaubensstätte für Katholiken und Protestanten. In unmittelbarer Nähe erreichen wir das Rathaus. Von hier aus wurde ab dem Jahre 1346 der Oberlausitzer Sechsstädtebund verwaltet.
An der Südseite des Rathausturms, neben der obersten Uhr, ist ein Türkenkopf mit Turban dargestellt. Hiermit sollte an die anstürmenden Türken erinnert werden, die jedoch bereits bei Wien gestoppt wurden. Vom Hauptmarkt laufen wir die Neusalzer Straße zurück zu unserer Unterkunft.
An diesem Tag hatten wir unser Bautzenbild komplett revidieren können. Es ist eine schöne Stadt, die ihre mittelalterliche Vergangenheit lebt, ohne jedoch Zeichen einer disneyhaften Attrappe aufzuweisen, wie es in Rotenburg ob der Tauber oft beklagt wird. Wir hatten eine Menge über die Sorben gelernt, ohne indes alles verstanden zu haben, was man auch bei einem kurzfristigen Besuch nicht erwarten kann. Zumal das Sorbische sich nicht aufdrängt. Denn zum einen gibt es mindestens zwei Varianten, Niedersorbisch und Obersorbisch, zum anderen ist es eine kleine Minderheit der Bevölkerung, und ob ihre Herausstellung nicht auch der Folklore dient, wird nicht immer erkennbar.
Für morgen nehmen wir uns die Gedenkstätte Bautzen und das „Nazi-Netzwerk von Bautzen“ vor, wie es uns in den Medien dargestellt wurde.
Kein Platz für rechts
Zur Gedenkstätte in der Weigangstraße können wir laufen, von unserer Unterkunft einfach die Taucherstraße nach Osten. Einen Zielpunkt für das „Nazi-Netzwerk“ gibt es nicht. Wir sehen keine Fahnen oder Aufkleber, Bautzen ist eine normale, schöne Stadt mitten in Sachsen. Den Treffpunkt, den ein rechtsextremer Sänger einrichten wollte, konnte der frühere Bautzener Oberbürgermeister Alexander Ahrens (SPD) verhindern. Und auch der aktuelle, Karsten Vogt (CDU), ist für solche Pläne nicht zu haben. Also woher die Vorurteile? „Für Rechtsextremisten, Antisemiten oder Reichsbürger ist heute und in Zukunft in dieser Stadt kein Platz“, hatte der SPD-Politiker gesagt. Das gilt auch heute.
Es gibt eine Bau-Firma, die den rechten Sumpf sponsert und die selbst im Mittelpunkt von Brandanschlägen stand. Damit beschäftigt sich seit einem Jahr die Justiz. Natürlich schlugen die Wellen hoch, und es ist immer noch ein Thema, wenn man versucht, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, wie wir es im Café der Gedenkstätte versuchen. Aber daraus eine stigmatisierende Plakette zu machen, die man der Stadt umhängen kann? Wohl nicht.
Es gibt in Bautzen Verschwörungstheoretiker, einen obskuren Friedenspreis. Aber vergleichbares gibt es überall in der Republik.
Dann gab es Brandanschläge auf den „Husarenhof“ 2016 und die Asylantenunterkunft „Spreehotel“ im Vorjahr. Schlimm genug, aber die Stadt steht zur Unterbringung Geflüchteter, trotz vieler Debatten. Es gibt daher keinen Grund, Bautzen zu verdammen. Es gebe, sagt ein Gesprächspartner, eine demokratische Zivilgesellschaft und auch Migrantenorganisationen. Es gebe ein Gremium „Kommit“, in dem man sich trifft, das Workshops und Konferenzen durchführt. Im „Kommit“ sind der syrische Frauenverein, die vietnamesische Community, Spätaussiedler und auch Vereine zur Unterstützung von Geflüchteten verbunden. Natürlich berichten sie von Rassismuserfahrungen auf dem Kornplatz, auf den Straßen, in Bautz’ner Schulen. Aber mit unseren Gesprächspartnern im Café der Gedenkstätte sind wir uns einig, dass wie der Etikettierung der Stadt als „Nazi-Nest“ entgegentreten wollen. Und so wollen sie von uns lieber wissen, ob wir denn alle Sehenswürdigkeiten in Bautzen gesehen hätten. Da werden wir etwas kleinlaut. Ja, den Wendischen Turm haben wir gesehen, viele schöne Bürgerhäuser aus dem Rokoko und Barock, die trutzigen Stadtmauern aus dem Mittelalter. Den Hauptmarkt , das Rathaus.
Das genügt unseren Café-Partnern, und das Versprechen, bei Gelegenheit den Besuch in Bautzen zu wiederholen, gefällt ihnen.
Nach der wortreichen Verabschiedung sehen wir draußen auf der hofartigen Freifläche vor dem Eingang mehrere Schulklassen. Gut so, wer lernt radikalisiert sich nicht.
Bautzen I und II
Bekannt ist die Haftanstalten Bautzen II, es gibt aber auch ein Bautzen I in der Breitscheidstraße, so erzählt es die Führung für eine Schulklasse, etwa im Alter von 13-14 Jahren. Auch hier wurde ab 1933 gemordet, das Gebäude ist heute noch Justizvollzugsanstalt, genannt wurde es „Gelbes Elend“. Bautzen II ist eine Gedenkstätte. Es diente unter den Nationalsozialisten, der sowjetischen Besatzung und während der SED-Diktatur zur Ausschaltung politischer Gegner. Wir besichtigen das Zellenhaus, die Freihöfe und zwei Gefangenentransporter. Es gibt Dauerausstellungen zum Nationalsozialismus, zum sowjetischen „Speziallager“ Bautzen und zum Stasi-Gefängnis. Zahlreiche Biografien schaffen eine beklemmende Atmosphäre.
Bis 1956 starben etwa 3000 Häftlinge in Bautzen, die in Massengräbern auf dem nahen „Karnickelberg“ bestattet wurden. 1992 wurden bei Grabungen in früheren Schützengräben die sterblichen Überreste von weiteren 180 Menschen gefunden.
„Bautzen“ war in der DDR als Synonym des Haftortes für politische Gefangene. In der Wendezeit forderten Demonstranten: „Für Erich und Konsorten öffne Bautzen seine Pforten!“ Was nicht passierte.
Einige Schriftsteller, die in Bautzen gefangen waren, haben ihre Erlebnisse auch literarisch versucht zu verarbeiten, für alle sei André Baganz genannt, der mir sein Buch „Endstation Bautzen II“ auf der Buchmesse 2011 in Leipzig signierte.
Alle Opfer aufzuführen ergäbe eine lange Liste. Bei unserem Besuch in der Gedenkstätte erschraken wir immer wieder, bekannte Persönlichkeiten anzutreffen. Aber ihre Bilder zu sehen, ihre Geschichten des Leids zu lesen, erzeugten Eindrücke, menschliche und historische. Aber sie verschatteten nicht das Bild von Bautzen, das wir während des Besuchs gewonnen hatten. Diese Seite gehört zu Deutschland und seinen Städten hinzu. Sie kann den Schlaf nicht stören.
BU: Bautzen, der Markt und das Rathaus. Copyright: hhh