Meine Tante Gertrud wird 102, Marburg wird 800. Beiden gilt mein Besuch. So weit weg voneinander ist das nicht, dass man das nicht in Beziehung setzen dürfte. Nicht einmal 8 mal so alt ist die erste offizielle Erwähnung meiner Geburtsstadt, die zugleich auch eine der Residenzstädte der Hessen war. Tante Gertrud ist die letzte von meiner Familie, die noch in Marburg geblieben ist. Ich werde es nie vergessen, mein Bruder und ich, wir standen oben am Schloss und blickten auf die Stadt. “Marburg ist uns zu klein”, sagten wir beide und beschlossen wegzugehen. Was wir auch taten, mein Bruder kam indes zurück, studierte Chemie, arbeitete in den Behringwerken und starb in Marburg. “800Jahre Marburg”, sagt der Oberbürgermeister Thomas Spies, ” das bedeutet für uns: 800 Jahre, gefüllt mit Geschichte, mit Erzählungen, mit Traditionen.” Für mich auch. Und damit der Reisende damit etwas anfangen kann, schicke ich ihn hoch zum Schloss an den Häusern der Oberstadt vorbei, die man durchs Dach betritt. Dann in die Elisabethkirche zum Schrein der Heiligen Elisabeth, zu ihrer Geschichte, zu der des Deutschen Ordens ins Deutsche Haus, zu der Geschichte der hessischen Fürsten. All dem, was in den letzten 800 Jahren von Bedeutung war, kann er hier nachspüren. Ich schicke ihn natürlich auch in die Philipps-Universität, der ältesten die ohne katholische Genehmigung gegründet wurde. Die Geschichte der Reformation mit dem Abendmahl-Gespräch zwischen Luther, Zwingli, Melanchton und Oekolampad ist nachzulesen. Die Amerikaner, das dürfte eher unbekannt sein, warfen im Krieg statt Bomben Zettel ab, dass man wegen dieses Ereignisses die Stadt verschonen würde.
Ich schicke den Reisebereiten auch auf meinen Erinnerungstrail, auf den Spiegelslustturm, zu den Hansenhäusern, es gibt leider nur noch das linke, zur Dammmühle, zum Waffelhäuschen, das meine Oma so liebte, obwohl ihre eigenen unerreichbar waren, auf einen Ausflug zur Amöneburg. Wer sich in die Geschichte Marburgs, die mehr ist als die Geschichte einer Stadt, vertiefen will, muss lesen. Und es gibt viel zu lesen, allen neuen Publikationen voran den Roman i222 von Daniel Twardowski (ISBN 978-3-942-487-17-7). Es ist ein Buch, das von vorne und hinten zu lesen ist, zum einen als Roman, zum anderen als Dokumentation. Dann das Buch zum Stadtjubiläum 2022, die Marburger Stadtgeschichten und weitere. Man findet darin, dass dieser 28. März 1222 nicht etwa die Geburtsstunde der Stadt ist, Marburg ist viel älter, sondern der Tag der ältesten bekannten Überlieferung. Ein Chronist berichtet, dass Landgraf Ludwig IV von Thüringen, ihm gehörte die Stadt, bei einer Gerichtsverhandlung mit den Bürgern die Nachricht von der Geburt seines Sohnes Hermanns erfuhr. In der umfangreichen und sachkundigen Literatur findet man viele Geschichten wichtiger Tage und Stunden. Philipp I von Hessen wurde hier geboren, der die Reformation prägte und die Konfirmation erfand.
Während ich auf der Schlossmauer sitze, denke ich zurück, an schöne Tage und an traurige. In den Bückingsgarten muss ich noch gehen, wenn er wieder geöffnet hat, zum Verbindungshaus der Marburger Teutonen. Ach ja, ein Dipperchen, ein Stück Marburger Keramik, muss ich kaufen, einen Nachtwächter, den Boten, die Ausgabe 10 mit den Anekdoten, Legenden & Erinnerungen. Ich weiß, die Vergangenheit ist vorbei, aber der Besuch öffnet viele innere Türen. Der Oberbürgermeister will dieses “ganz besondere Stadtjubiläum auch zum Anlass nehmen, nach vorne zu schauen, uns Gedanken über die Zukunft zu machen.” Er will nicht weniger als Marburg “erfinden”, um es “noch lebenswerter gestalten” zu können. Große Worte zum großen Jubiläum. Die Stadt ist nicht zu erfinden, sie ist zu heilen. Die Oberstadt unter dem Schloss ist zu revitalisieren. Einkaufszentren vor der Stadt haben viele Traditionsgeschäfte, darunter das Töpferhaus und das Dürerhaus, zum Aufgeben gezwungen, Corona gab vielen den Rest, war aber nicht der alleinige Grund des Niedergangs. Jetzt findet man überwiegend Läden, wie es sie überall gibt. Der öffentliche Nahverkehr ist ein Graus, zu wenige Frequenzen, zu wenige Vernetzungen. Wieso fährt der 16er Bus zum Friedhof und zum Kletterwald nur einmal pro Stunde? Und An- und Abreise zum Hansenhaus Links sind ein Ratespiel, so dass man lieber gleich zu Fuß geht oder ein Taxi ruft.
“Soziales Engagement für die Nächsten in Not” und das Vermächtnis der Heiligen Elisabeth sind dem Oberbürgermeister das Anliegen Nummer 1. Jan Gehl und sein Konzept der “Städte für Menschen” sind sein Neuerfindungsthema 2, und so geht es weiter – über Matthias Horx und die “progressive Provinz”, über Emil von Behring zu Biontech, passend dazu ist die Mitbegründerin des Pharma-Unternehmens, Özlem Türeci, in den Hochschulrat der Philipps-Universität berufen worden, bis zu den Lahntauchern. Thomas Spies hat sich vieles aufschreiben lassen, was in meinen Ohren beliebig klingt. Das hätte so ähnlich auch der Gießener Bürgermeister sagen können, sozial, öko, bürgernah, innovativ. Das ist nicht unverwechselbar Marburg. Sich zum Jubiläum auf der Stadtautobahn treffen, wie kühn, wo ihr Bau selbst eine urbane Schandtat an der Stadt und an der Lahn war, man hätte auch der Ketzerbach ein Hulala feiern können. Egal, 50 000 sind gekommen. Gefeiert wurde drei Tage auf dem Marburger Stadtfest und eine Woche darauf in den „Marburger Nächten“. Da sind sie alle dabei, vor allem die vielen Studenten, welche die Stadt kosmopolitisch und intellektuell prägen, die aber doch gerne die lokale Erdung angenommen haben. Das ist es. In den Auslassungen des Oberbürgermeisters kommt mir das zu kurz, das unverwechselbar Marburgische.
Vielleicht bin ich auch einfach zu alt und zu sehr Marburger Dipperchen, um an gelackten Reden und Auftritten Spaß zu haben. Für den unvoreingenommenen Besucher bietet sich jedenfalls bis Ende des Jahres ein reiches Programm, Ausstellungen, Theateraufführungen, Diskussionen, vieles online, vieles life. Die “Stadtgeschichte” ragt heraus, und das “jüdische Leben”. Wobei die Rolle derer von Hessen im Dritten Reich mehr kritische Aufmerksamkeit verdient hätte. Aber die Darstellung des jüdischen Neubeginns bis zum heutigen Tag im alten Rathaus ist hervorragend.
Ich bin ja auch lange weg, nie wieder auf Dauer zurückgekommen. Als ich Tante Gertrud ein paar Blümchen in Heim bringen will, erfahre ich, dass sie gegangen ist, 101 Jahr alt. Der Hahn auf dem alten Rathaus hat zum letzten Mal für sie die Flügel gebreitet und gekräht. Bleibt mir nur, ein weiteres Mal Abschied zu nehmen von meinem geliebten Marburg, wo mein Onkel, Gertruds Mann, mal 7 Tore in einem Spiel des VFL kassiert hat, und das jetzt neu erfunden werden soll. Was es nicht braucht. Sorgfältig weiterentwickeln die nächsten 101 Jahre ist genug.
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