Antarktische Halbinsel:
Glühendes Eis – heiße Liebe
Text + Foto: Dr. Harald Schmidt
Bild oben: Die sogenannte Speiseröhre
Weit reicht die Antarktische Halbinsel vom Kontinent aus Eis und uraltem Gestein in die Schottische See südlich der Drakestraße und Kap Horn.
Hüpf…hüpf…hopps…pfutzsch…platzsch…hüpf…hüpf…pfutzsch… Ein kleiner Eselspinguin kommt den Schneehang herunter gerannt. Auf der Cuverville-Insel in der Paradies-Bucht auf der Ostseite der Antarktis-Halbinsel haben Eselspinguine, erkennbar an dem roten Schnabel, eine ihrer größten Kolonien gegründet. Eselspinguine sind eine von fünf Pinguinarten in der Antarktis. Sie sollen die schnellsten Schwimmer unter diesen Vögeln sein.
Auf einem der zahlreichen vernetzten ausgetretenen Pinguinwege – von uns Menschen ‚Pinguin-Autobahn’ genannt – will ein kleiner, schwarzer Frackträger schneller sein als seine Füße ihn tragen. Er rutscht, dirigiert mit den kurzen Flügeln, die nur zum Schwimmen, nicht mehr zum Fliegen zu gebrauchen sind. Er rutscht wie zum der, tritt ins Leere, beugt sich beim Laufen nach vorn, um das Gleichgewicht zu halten. Er gleitet aber trotzdem wie ein Fußgänger in der Stadt bei Glatteis. So ein Gleichnis macht ihn und seine Artgenossen sympathisch. Mit seinem weiß gefiederten Bauch landet er auf dem körnigen Schnee. Genüsslich bleibt er auf diesem Polster liegen. Warum? Vielleicht fühlt er sich beobachtet. Als ob er von seinem Missgeschick ablenken will, nascht er vom Schnee. „Schließlich muss ein Pinguin auch mal trinken. Oder?! Ich wollte so landen.“, könnte er sagen. Recht hat er. Wenn es schnell gehen soll, rutschen Pinguine allerdings auch auf dem Bauch. Der kleine Dicke springt allerdings wieder auf die Füße, schaut sich um und richtet mit dem Schnabel kurz seine Federn. Dann rennt er direkt auf den großen weißen Fremdling zu. Beider Weg kreuzt sich. Pinguin und Mensch warten freundlich. Sie wollen dem anderen die Vorfahrt lassen. Mensch wurde zuvor auf dem modernen norwegischen Expeditionsschiff ‚Fram’ – das ist die Namensnachfolgerin des Schiffes vom berühmten Polarforschers Roald Amundsen – unterrichtet, dass er von Robben, Seelöwen, Pinguinen, Kormoranen und anderen Vögeln fünf Meter Abstand halten soll – zum Schutz der Tiere und zu seinem. Aber das ist einfacher gesagt als getan. Jetzt sind sich freiwilliger Gast und unfreiwilliger Gastgeber auf der Cuverville-Insel einen halben Meter nahe gekommen. Der Große spricht den Kleinen an. Etwa so „Wie geht’s? Willst Du nicht? Nun geh’ doch…“
Der Kleine hält seinen Kopf schrägt in Richtung des Sprechenden. Deutsch ist ihm fremd – mehr als Englisch. Er wendet den Kopf. Denkt offenbar nach. Hält den Kopf wieder bedächtig schräg in Richtung Menschenfreund. Das wiederholt sich. Dann watschelt er mit seinen orangefarbenen Füßchen mit den langen Krallen vorsichtig weiter zum Wasser. Andere Gesellen schließen sich ihm unterwegs an. Ein kühner Kopfsprung vom Fels in das dunkle, eisige Polarmeer mit den bizarren Eisbergen und Eisschollen. Ein paar Minuten plantschen die Pinguine an der Wasseroberfläche. Schon sind sie in die Tiefe abgetaucht. Zurück bleibt der Partner. Er oder sie wartet auf dem Nest mit dem Kind bis der andere zurückkehrt.
Pinguinkolonie
Leben und Sterben in der Paradies-Kolonie
Auf dieser Insel lebt in mehrfacher Hinsicht die Pinguin-Kolonie. Der Gast gehört bald dazu. Überreife Teenager mit dunkelgrau-braunen Flaumfedern stehen herum. Bei einigen lugt schon das schwarz-weiße Federnkleid der Erwachsenen hervor. Pinguineltern wärmen ihr Küken, manche brüten sogar noch Eier. „Dieses Küken dort wurde erst gestern geboren. Es wird die Zeit bis zum antarktischen Winter nicht schaffen und wie viele andere Küken sterben“, erklärt die deutsche Biologin Friederike Bronny. Mit dünnem hellgrauem Flaum lugt es zwischen den Beinen des Erwachsenen hervor und streckt wie alle Vogelkinder den weit geöffneten Schnabel dem Elternteil entgegen. Spätesten seit den vielen Pinguinfilmen wissen wir, dass sich Mutter und Vater beim Brüten und der Nahrungsbeschaffung ablösen. Es existiert eine echte Paarbeziehung mit gemeinsamer Erziehung des Nachwuchses und auch mal Fremdgehen, wenn der Partner in der Ferne Fische fängt.
Ein Pinguin hebt den Kopf und schreit. Sein vermeintlicher Partner ist mit Krill-Futter – mit kleinen Krebsen – gekommen. Schon stimmen andere ein. Ein Geschrei – doch der Partner wird gefunden. Die Stimme ist ein Erkennungsmerkmal – auch bei Pinguinen. Mit dem Schichtwechsel des Nistplatzes haben Pinguinfrau und -mann es nicht eilig. Sorgfältig erfolgt die Ablösung.
Im Hintergrund schützen schneebedeckte, schwarze Berge so etwa 500 bis 1.000 Meter hoch. In der Bucht haben sich weiße bis weißblaue Eisberge verankert. Über der Pinguin-Kolonie kreisen Skuas, die braunen Raubmöwen. Noch kämpfen sie untereinander um den Beuteplatz. Doch bald werden sie sich zurück gebliebene Pinguin-Küken als Futter holen. Ein Beinknochen an der Schuhspitze des Autors zeigt, dass sie bereits Erfolg hatten.
Die Steinchen-Sammler
„Erfahrene Pinguin-Eltern haben ihr Nest höher auf den Fels gebaut. Der Weg ist für sie zwar beschwerlicher, aber die Sicherheit, ihre Küken groß zu ziehen, wird größer. In den unteren Etagen konnten die Pinguine wegen höheren Schnees erst spät mit dem Brüten beginnen.“, weiß die Biologin zu berichten. Für den Nestbau stehen nämlich keine Gräser oder Äste zur Verfügung, sondern nur Kieselsteine. Mit ihnen ist sicher, dass das Ei nicht im Schnee oder im Schlamm liegt. Wärme erhält es durch die Eltern. Besagte Kiesel sind deshalb für den Nestbau begehrt. „Pinguin-Männer können vor ihren weiblichen Favoritinnen mit diesen Steinen glänzen. Die Weibchen sind wie verrückt nach den für sie edlen Steinen. Mitunter prostituieren sich Weibchen sogar für einen fremden Bewerber, während der ‚Angetraute’ auf der Nahrungssuche ist.“, meint die Expertin. Noch etwas ähnelt der menschlichen Gesellschaft: was begehrt ist, das wird auch gern gestohlen. „Dieser Trieb ist angeboren und bleibt auch erhalten, wenn das Nest eigentlich nicht mehr benötigt wird, weil es die Jungen als junge Erwachsene verlassen haben.“
Die Antarktis glüht
Die ‘Fram’ nähert sich dem engen Naturkanal Gullet – zu Deutsch „Schlund“ oder „Speiseröhre“ – zwischen der Hanseninsel und der großen Arrowsmith Halbinsel des antarktischen Festlandes gelegen. Der Name wurde passend gewählt. Eisberge in bizarren Formen, weiß mit türkis, hell- und dunkelblau gefärbten Vertiefungen speit der Schlund aus. Eisschollen mit schläfrigen Krabbenfresser-Robben oder aufgeregten Pinguinen strömen durch den Schlund. Durch den engen, von der Natur geschaffenen Kanal passt gerade mal ein Schiff. Die Uhr zeigt 22:35 Uhr an. Im Spätsommer des äußersten Südens beginnt die Sonne zu sinken. Golden leuchten die schneebedeckten Gipfel der zumeist namenlosen Berge. Allmählich färbt sich die spiegelglatte See blutrot. Der Abendhimmel hebt sich beim ‚Zusammenstoß’ mit den Gipfeln mit einem kräftigen Blau ab, dann wird auch er rot, von dunklen Wolkenstreifen durchzogen. Was für ein Anblick! Die Antarktis glüht. Eine Traumwelt gerade wie die der Malerei von Salvador Dali. Hier ist die Natur der Künstler. Es ist still. Nur das Knacken des Eises ist zu hören. Mit dem Versinken der Sonne hinter den Bergen wird die See glatt und silbern wie ein Spiegel.
Wenn es Wind, Wetter und Eis erlauben, wenn wir durchkommen, dann werden wir heute auf der Insel Stonington landen.“, so die Durchsage der Expeditionsleiterin Anja Erdmann. In der Antarktis, der wohl letzten Wildnis auf der Erde, bestimmt die Natur das Programm. Doch die Natur meint es gut. Bestes antarktisches hochsommerliches Wetter – eine leichte Brise und eine Temperatur von plus sechs, in der Sonne sogar bis zu 14 Grad Celsius. Die kleine, felsige Insel Stonington in der Marguerite Bucht westlich des Graham Landes auf der östlichen Seite der antarktischen Halbinsel, zugleich der südlichste Punkt auf der Antarktischen Halbinsel, der von Schiffen angefahren werden kann, ist erreicht. Dann ist es bestenfalls nur noch Yachten möglich.
Eine großartige Landschaft – Gletscher, Stein- und Eisflächen mit azurblauem Himmel und wärmender Sonne – zeigt sich von der schönsten Seite, lädt zum Verweilen ein. Das Expeditionsschiff Schiff entlässt seine Gäste…
Weitflächige grau-grüne Granit-Kiesstrände erlauben den Blick auf mehrere tausend Meter breite Gletscher, die auf der hundert Meter entfernt gegenüber liegenden Seite der Bucht ins Meer münden. Sie werden überragt von schroffen, braun-grauen Bergen. Plötzlich knackt es mehrmals, dann Stille. Das Knacken wird intensiver. Dann kracht es wie bei mehreren Gewittern auf einmal, geradeso als ob zehn Lkw Pflastersteine abladen. Ein riesiger Brocken Eis – etwa so groß wie ein Einfamilienhaus – fällt aus einem der vielen Eisgewölbe des Gletschers ins Wasser. Der Gletscher kalbt. „Vom Ufer weg!“ ruft Jean-Louis Imbs, der Ökologe aus Frankreich. Ein kleiner Tsunami rollt an. Erst eine Welle, dann eine zweite und weitere schwache erreichen aber nicht die Anhöhe, auf die die Beobachter dieses Naturschauspiels geflüchtet sind. Die Krabbenfresser-Robbe, die unweit des Strandes in der Sonne döst, stört es nicht. Neugierig schaut ein Pinguin zu.
Frauen im Eis
Unweit befindet sich die ehemalige amerikanische Antarktisstation ‚East’, die 1940/41 und 1947/48 belegt war. Die Station wurde zum Museum und zeigt einige Utensilien der Forscher. Auf der braunen Tür des Arbeitsraumes hat jemand mit weißer Kreide geschrieben, dass der Arbeitsplatz sauber verlassen werden soll. Männerwirtschaft – zum überwiegenden Teil ja. Aber in dieser Station und in der nur 200 Meter entfernten britischen Station haben erstmals jeweils eine Frau, die Engländerin Jennie Darlington und die Amerikanerin Jackie Ronne, mit den Männern im Jahr 1947/48 als erste Forscherinnen der Welt überwintert. Die heute verlassene britische Station ‚E’, wurde 1945/46 errichtet und bis 1975 betrieben. „Obwohl die Stationen so nahe lagen, kamen beide Expeditionen nicht miteinander aus. Doch man brauchte sich. Die Engländer hatten Hunde und Schlitten, die Amerikaner ein kleines Flugzeug“, weiß der norwegische Glaziologe (Eisforscher) Dr. Olav Orheim Menschliches aus der Eiswelt zu erzählen. „Die beiden Frauen bekämpften sich untereinander. Jede wollte die alleinige erste Frau beim Überwintern in der Antarktis sein. Zudem hatte die Engländerin eine Affäre mit einem Amerikaner und erwartete von ihm ein Kind.“ Es gab kein Happyend:Der Zickenkrieg der Antarktis wurde auch im Leben nach der Antarktis nicht beendet.
Die Natur setzt Grenzen
Der Anker der ‚Fram’ rasselt in die antarktische See. Das Schiff liegt vor der Horseshoe Insel (dt. Hufeisen) in der Squarebucht auf der Westseite des Graham Öllandes. Ein Lagerschuppen einer ehemaligen britischen Station ist zu sehen. Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos blau. Doch das Meer trägt Schaumkronen. „20 m / sec.!“, meldet die Brücke. Mit fachlichen Worten ist das ein ‚stürmischer Wind’. Ein Anlanden wird bei derartig bewegter See unmöglich auch wenn die Sonne scheint. Die Antarktis zeigt zwar ein sonniges Gesicht, aber das kann täuschen. Sie siegt dieses Mal erneut über den Menschen und zeigt ihm als Teil der Natur seine Grenzen.