Nach langer Fahrt durch die Prärie werden am Horizont blaue Umrisse deutlicher. Die Rocky Mountains kommen in Sichtweite. Hier trifft man noch den ursprünglichen Westen, Abenteuer, wilde Tiere und originelle Charaktere. Zwischen Wildwassern und Passhöhen geht es abwechslungsreich durch traumhafte Landschaften.
Das Restaurant ist klein, aber gemütlich. Der richtige Rahmen für homemade soup und selbst gebackenen Pie. Mittelpunkt dieses zusammen gewürfelten Gebäudes, das je nach Bedarf immer mal erweitert wurde, ist die Küche. Es zischt und dampft, Köche verständigen sich lautstark über das Gebraus hinweg. Man sitzt auf Plastikstühlen an stabilen Holztischen. Jetzt, gegen 18 Uhr, zur Hauptessenszeit Nordamerikas, findet man keinen freien Platz mehr. Doch jeder wartet geduldig, bis er an die Reihe kommt. Eine in Plastik eingeschweißte Speisekarte ist übersichtlich: Rind, Schwein und Geflügel in verschiedenen Portionsgrößen, Nachspeisen mit eigenwilligen Namen, die einem Holzfällerappetit gerecht werden, unter anderem auch den zu dieser Zeit aktuellen Huckleberry-Pie. Diese wilde Variante der Blaubeere lässt sich sehr vielseitig verarbeiten: Vom Honig bis zur Seife findet sie allerlei Anwendungsmöglichkeiten.
Dann betritt ein neuer Gast das Lokal. Nein Wyatt Earp kann es nicht sein. Die hoch gewachsene Gestalt mit den stahlblauen Augen mustert alle anwesenden Gäste: Der gesuchte Will ist noch nicht wie vereinbart eingetroffen. Auf dem grau melierten Haar den Stetson, die zerschlissenen Jeans, dazu Stiefel, vorne spitz zulaufend, hinten mit Absatz, man ahnt, dieser Mann ist es gewohnt über Rinderherden zu herrschen. Doch vor der Tür steht kein gesattelter Mustang, sondern einer dieser prachtvollen, Benzin fressenden, amerikanischen Trucks mit Zwillingsbereifung, stark genug schwere Lasten über lange Strecken zu ziehen. Fast jeder der Gäste scheint ein ausgeprägtes Individuum zu sein, angepasst an die Landschaft, angepasst an das oftmals schwierige Leben.
East-Glacier ist eher beschaulich und landschaftlich nicht so dramatisch wie die Westseite des Nationalparks. Dafür ist es authentisch geblieben, hier trifft man auf Montanas Lokalkolorit. Dieser Bundesstaat, im mittleren Westen der USA hat so ziemlich alles zu bieten, was ein Besucher erwartet: Hohe, zerklüftete Gebirgszüge, sich weit ausdehnende Prärien, einsame Farmen mit Luxus-Blockhäusern, alte verfallene Homesteads, breite Täler, Flüsse und lange Seen, quirlige Städte und verschlafene Ortschaften.
Zeugen des Klimawandels
Die winzigen Lämpchen auf dem Reliefbild im Visitor-Center zeigen die Wahrheit: In absehbarer Zeit wird es so gut wie keine Gletscher mehr im Glacier-Nationalpark geben, der vor einigen Jahren sein 100jähriges Bestehen feierte. Selbst ohne die eisigen Riesen ist die Bergwelt mit ihrer vielseitigen Flora und Fauna großartig. Der Name des Parks bezieht sich auf Eiszeitvergletscherungen, deren Massen dem scharfkantigen und steilwandigen Gebirge sein heutiges Aussehen verliehen, indem sie weicheres Gestein abtrugen. Zahlreiche kleine Schmelzwasserseen und U-förmige Täler bildeten sich. Die lang gestreckten Seen McDonald Lake und St. Mary´s Lake sind gefragte Urlaubsziele. Während sich die meisten Touristen in Andenken-Läden tummeln, ist man mit seinem Kanu oder Kajak beinahe alleine auf dem Wasser unterwegs. Die beiden Eckpunkte des Nationalparks, West-Glacier und East-Glacier, werden durch den über 2000 Meter hohen Logan Pass verbunden. Der erste Superintendant des 1910 etablierten Glacier Nationalparks hieß William R. Logan. Er machte sich mit der touristischen Erschließung und dem Bau der nach ihm benannten Straße verdient. Dem anderen Namen Going-to-the-Sun-Road, wie diese Straße meist genannt wird, liegt eine alte Indianer-Legende zugrunde. Sie ist ein straßenbauliches Meisterwerk und ist insgesamt 80 Kilometer lang. Mit nur einer Spitzkehre und mäßigem Anstieg, ist sie mit dem Auto gut zu bewältigen. Für längere Wohnmobile und Wohnwagen gilt ein Fahrverbot.
Der Jammer mit dem roten Bus
Vor der alt ehrwürdigen McDonald Lodge wartet schon die Flotte roter Busse. In der Zeit zwischen 1936 und 1938 baute die White Motor Company Fahrzeuge mit denen sich im Vergleich zu einer Fahrt mit der Kutsche bequem die Landschaft dieser ursprünglichen Bergwelt erkunden lässt. Die robust konstruierten Fahrzeuge boten Sitzplätze für mehrere Passagiere. Auch heute noch, nach über 70 Jahren, befinden sich die Oldtimer in technischem Bestzustand und sind die Attraktion des Parks. Dazu bieten sie eine umweltfreundliche Beförderungsmöglichkeit: 17 Passagiere werden pro Bus transportiert. Außerdem sind sie eine Augenweide. Die rot lackierten und polierten Kotflügel samt Seitenteilen geben das Spiegelbild der Fahrgäste wider. Ein geschmackvoller Kontrast ist das schwarz glänzende Oberteil. Inzwischen sind die Busse mit einem Kanvasdach ausgestattet, das sich bei gutem Wetter einrollen lässt und dadurch einen grandiosen Rundumblick während der Fahrt gewährt. Ihren eigenartigen Namen: „Jammer“ erhielten die Busfahrer, -innen in der Zeit, als die Gänge bei einem Hand geschalteten Getriebe während Bergauf- bzw. Bergabfahrten mit einer speziellen Schalttechnik eingelegt wurden, die ein lautes mechanisches Geräusch verursachten: To jam into the next gear. „Links sind nun die weinenden Wände, „the wheeping falls“ zu sehen, erklärt Colleen, und deutet auf eine Felswand direkt neben der Straße, über die in gleichmäßigen Strömen Wasser läuft, Wasser, das sich über mehrere Kilometer seinen Weg unterirdisch durch das Gestein von der Ostseite der Berge bis auf die gegenüber liegende Seite hierher bahnte. Colleen ist „Jammer“ von Bus 102. Die junge Dame, die schon in vielen Teilen der Welt und in der Antarktis gearbeitet und studiert hat, erklärt mit sehr viel Charme und noch mehr Wissen die geologischen und biologischen Besonderheiten des Parks. Die Westseite des Parks erhält von den feuchtwarmen pazifischen Luftmassen wesentlich mehr Niederschläge als die östliche. Das hat zur Folge, dass bis auf eine Höhe von 1800 Metern dichte Wälder mit Lärchen und Douglasien gedeihen. Besonders im Lake McDonald Valley sind riesige Lebensbäume und Hemlocktannen zu bestaunen. Dagegen liegt auf der trockeneren Ostseite auch der Übergang vom Gebirge in die weitläufige Prärie. Hoch liegende Bergwiesen verwandeln sich in den kurzen Sommermonaten in ein Blumenmeer mit einer Vielfalt von Blüten. Besonders herausragend ist der imposante Wuchs des Bärengrases, eines Zwiebelgewächses mit hoch aufragender weißer Blütendolde. In dieser Landschaft haben die für die Rocky Mountains üblichen Säugetiere ihren Lebensraum. Bei Hochgebirgswanderungen ist es schon möglich einen Grizzly– oder Schwarzbären zu treffen. Häufiger sind weiße Bergziegen und graubraune Dickhornschafe zu sehen, die sich schon zu gut an den Menschen gewöhnt haben.
Scheinwerfer am Straßenrand
Bei den harschen Wetterbedingungen, im Winter liegen hier bis zu 10 Meter Schnee, bedarf die Passstraße ständiger Verbesserungen. Gearbeitet wird nur während der drei Sommermonate und dann auch noch nachts. Dicht am Abgrund sind Scheinwerfer für die Nachtschicht angebracht.
Die Wintersperre dauert von Anfang Oktober bis Mitte Juni. Wartezeiten bei dem Einbahnverkehr sind unumgänglich. Ein Blick in die Umgebung solange die Ampel rot zeigt, entschädigt für die Wartezeiten. Es tut gut sich die Beine zu vertreten und mit anderen Wartenden ins Gespräch zu kommen. „Es gibt keine Worte, welche die Größe und Majestät dieser Berge beschreiben.“ George Bird Grinnell, der als Vater des Glacier-Nationalparks gilt, veröffentlichte im The Century Magazine 1901 einen Artikel, indem er voller Begeisterung von dieser Gegend berichtet.
Mit seiner beeindruckenden Fläche von insgesamt 4.100 km² zählt der Glacier-Nationalpark auch flächenmäßig zu den größten Amerikas. Er wurde gemeinsam mit dem auf der kanadischen Seite sich direkt anschließenden Waterton-Nationalpark zum ersten internationalen Friedenspark der Welt ernannt. Seit 1995 gehört er zum UNESCO Welterbe.
Durch seine raue Berglandschaft verläuft die kontinentale Wasserscheide. Nach Westen münden alle Gewässer in den Pazifik, nach Osten in das Einzugsgebiet des Mississippi und schließlich in die Karibik.
Wir haben nur die Steine verkauft
Bei aller Großartigkeit der Landschaft sollte man jedoch nicht vergessen, wie Beauftragte der damaligen Regierung zu diesem Naturschutzgebiet kamen. Alles Land, was heute zum Park zählt, war Siedlungsraum der Blackfeet-Indianer und Kutenais. Sie fischten in Flüssen, nutzten den Wildreichtum, sowie das übermäßig vorhandene Holz, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Generationen durchquerten das schwierige Gelände, um in die östlich gelegenen Prärien zu gelangen, wo sie Bisons jagten.
Vier Tage dauerten die Verhandlungen. Eine Einigung war nicht in Sicht. Hätte nicht damals große Hungersnot unter den Einheimischen geherrscht, hätten diese sich wohl nicht bereit erklärt das Land abzutreten. „We sold them only the rocks!“ In diesem Glauben befanden sich wohl die meisten, bis ihnen klar wurde, dass auch das Land den Besitzer wechselte. Zwar wurden ihnen einige Sonderrechte eingeräumt, die sie wahrnehmen könnten, aber darauf verzichteten. Welcher Tourist würde sich freuen einen Blackfeet bei der Jagd auf einen Hirsch zu treffen? Oder wo bliebe das Verständnis, wenn hinter dem Camping-Platz Bäume abgesägt würden?
Aus dem Auditorium des Visitor Center in St. Mary dröhnt gleichmäßiges Trommeln.
Schon seit vielen Jahren kultiviert eine Gruppe der Natives alte Tänze ihres Klans. Solch eine Aufführung ist etwas Seltenes. Eine junge attraktive Frau betritt die Bühne, sie ist diesjährige Schönheitskönigin des Stammes. Zahlreiche Trommler werden aktiv, dazu ertönt kehliger Gesang. Zu ihren geschmeidigen Bewegungen, bei denen kunstvoll gefertigte Schals, sowie mit Perlen bestickte Umhänge voll zur Geltung kommen, begleitet sie monotones Trommeln, verstärkt durch kräftiges Stampfen der Füße. Beinahe schockiert nimmt man als Zuschauer wahr, wie dieser tiefe Ton der Trommel von einem Besitz ergreift. Innerlich beginnen Schwingungen zu vibrieren. Erst jetzt wird vieles nachvollziehbar, was First Nation People in ihrer über Jahrtausende alten Kultur an übersinnlichen Erlebnissen erfuhren. Für viele ist es ein schwieriger Spagat. Auf der einen Seite möchte jeder am modernen Leben teilnehmen, auf der anderen gibt ihnen der Erhalt von Traditionen auch Möglichkeit sich mit ihrem Dasein als Ureinwohner zu identifizieren.
Rafting auf der Middle Fork des Flathead River
„Paddle left, keep on going, rest.” Auf dem Schlauchboot gilt das Kommando des Bootsführers Joseph, die zehnköpfige Besatzung hat zu folgen. Die nächsten Stromschnellen mit dem aufmunternden Namen „Bone-Crusher“ sind bereits zu hören. Jetzt gilt es paddeln, paddeln, paddeln, bis zu einem bestimmten Punkt, dann passt sich das Boot ohne Zutun sanft der Strömung an. Eine Rafttour auf dem Middle Fork des Flathead River im Glacierpark ist nicht unbedingt eine sportliche Herausforderung aber ein Riesenspaß. Da heißt es schon wieder aufgepasst: Der Widow-Maker naht. Eine größere Welle schwappt ins Boot. Spätestens jetzt sind alle nass. Nach einem regenreichen Frühjahr führt der Fluss mehr Wasser als gewöhnlich. An manchen Stellen sind die Steine am Boden zum Greifen nah, an anderen tut sich unter dem Boot eine scheinbar grundlose Tiefe auf. Zu Beginn der Saison, nach der Schneeschmelze, ist das Wasser oft vier Meter höher als jetzt. Josephs Augen glänzen, als er von rasanten Fahrten erzählt. Auf Kiesinseln hoch getürmte Berge von angeschwemmten Baumstämmen machen seine Aussage glaubhaft. Alle genießen die Ruhe, das leise Plätschern, das mühelose Vorwärtskommen. Plötzlich ertönt ein allzu bekanntes Pfeifen. Oberhalb des Flusses verlaufen die Eisenbahngleise, verlegt durch dasselbe Tal. Es dauert eine Weile bis die 120 Güterwagen laut quietschend verschwunden sind. Zurück in der Realität. Auch die Bootsfahrt geht zu Ende. Auf die tapfere Bootsbesatzung wartet am Ufer ein ausgiebiges „Supper“. Jetzt heißt es für Joseph Steaks wenden. Dabei muss er genauso höllisch aufpassen, dass sie nicht verbrennen, wie beim Bone-Crusher, wo es gilt das Gummifloß samt Inhalt sicher durch die Stromschnellen zu manövrieren.
Informationen:
Reisezeit in den Glacier- Nationalpark ist von Mitte Juni bis Ende September. Davor bzw. danach ist Wintersperre auf dem Logan Pass.
Veranstalterangebote: CRD International hat sich auf Reisen in die USA und nach Kanada spezialisiert und bietet Flüge, Wohnmobile, Mietwagen und Unterkünfte und vorgebuchte Touren, www.crd.de
Auskünfte: die Rocky Mountain Staaten haben sich zusammengeschlossen zu einem Markeetingverband. Auf der Website finden sich die wichtigsten Hinweise und Vorschläge
Text: Monika Hamberger, Fotos: alle von Rainer Hamberger, bis auf eine Ausnahme