Majestätisch thront der Monviso über dem Po- und Varaita-Tal auf italienischer Seite und der Berglandschaft des Queyras jenseits der Grenze in den französischen Hochalpen. Nur selten zeigt sich der „König aus Stein“, dem in den Tälern des Piemont eine fruchtbare Landschaft und in den Höhen der Provence-Alpes-Côte d´Azur ein beeindruckender Naturpark zu Füßen liegt.
Text und Fotos: Renate Wolf-Götz
In einem kleinen Café im belebten Städtchen Briancon nahe der italienischen Grenze ist die Tour de France das Thema. Für die Profiradler dürfte die gemäßigte Steigung in der einstigen Festungsstadt auf 1223 Metern Höhe noch fast ein Spaziergang sein. Doch danach geht es steil aufwärts auf den Col d´Izoard. Über 19 Kilometer schlängelt sich der schweißtreibende Anstieg in vielen Serpentinen mit anhaltend sechs Prozent Steigung gipfelwärts. Da heißt es kräftig in die Pedale treten im Kampf gegen Höhenmeter und Zeit. Der legendäre Belgier Eddy Merckx hat die gnadenlose Etappe vor über 40 Jahren gewonnen und Jan Ullrich war 25 Jahre später als Izoard-Stürmer erfolgreich.
Wir schrauben uns auf vier Rädern in weiten Schleifen Richtung Gipfel. Trotzdem steht mir der Schweiß auf der Stirn. Kein Gedanke daran, die spektakuläre Landschaft der Casse Déserte, der „zerhackten Wüste“ mit ihren Geröllhalden und den Felsnadeln zu bewundern. Oben auf dem Gipfel winkt die Erlösung. Tief durchatmen und die frische Luft auf 2360 Metern Höhe genießen. Das kleine Museum zur Geschichte der Tour de France, die 1922 zum ersten Mal über den Pass führte, hat ohnehin geschlossen.
Dicke Wolken hängen über dem Naturpark Queyras am südöstlichen Zipfel der französischen Hochalpen, als wir unsere Herberge, die Ferme de l´Izoard im Dorf Arvieux gegen Abend erreichen. Zum Empfang gibt der Esel hinterm Haus schrille Schreie von sich. Vielleicht spürt das sensible Lastentier das herannahende Gewitter. Auch im Haus ist die Stimmung aufgekratzt. Die Wanderer sind von ihren Touren zurückgekehrt und vertreiben sich die Zeit zwischen Bar und Kamin. Doch schon bald nach dem Abendessen kehrt Ruhe ein in der Wandererherberge. Nur der Regen trommelt gegen das Dachfenster. Es schüttet die ganze Nacht durch und hört auch am Morgen nicht auf. Damit fallen unsere Wanderpläne ins Wasser. In der Arche de Cimes, dem Naturparkmuseum im Dorf Ristolas, erfährt man auf spielerische Art, wie die Natur westlich des Alpenhauptkamms das Leben geprägt hat. Auf Knopfdruck lassen sich Gerüche und Geräusche der reichen Pflanzen- und Tierwelt auslösen. Besonders würzig duften die Pflanzen der Almen in den Höhenlagen ab 2500 Metern. Im Sommer gehören die Almwiesen den Schafen. Wer sich für die Arbeit der Schäfer oder der Imker und Naturschützer in der alpinen Region interessiert, kann die Fachleute per Touchscreen „zum Leben erwecken“.
In den acht Dörfern des Queyras hat das traditionelle Holzhandwerk einen hohen Stellenwert. Mancher Handwerker lässt sich bei der Arbeit über die Schulter schauen. Pierre Grossan ist einer davon. In seiner Werkstatt in Ceillac gibt er einer Vitrine aus Zirbenkiefernholz den letzten Schliff. Wie schon sein Vater und Großvater schnitzt der Möbelschreiner mit ruhiger Hand Blumenrosetten im typischen Stil der Ceillaquin in die Schranktüren. Zeit spielt dabei keine Rolle. „Holz braucht immer seine Zeit, zum Wachsen, zum richtigen Ablagern und zum Schnitzen“, sagt der 60-Jährige, der zusätzlich mit seiner Frau einen Campingplatz am Weiler Ceillac betreibt.
In der Holzhandwerker-Kooperative „Artesan“ im mittelalterlichen Dorf Ville Vieille stehen die Möbel und anderes Kunsthandwerk der kleinen Handwerkstätten der Queyras-Gemeinden zum Verkauf. Hier findet man auch andere Produkte der Naturpark-Gemeinden wie Honig, den würzigen Schafskäse, Kräuterliköre oder Gebäck. „Alles reine Naturprodukte, aber ohne Biosiegel“, betont Philippe von der Hoeven, der gerne in der Initiative aushilft. Nach einigen Jahren in den USA verbringt der Computerfachmann seinen Ruhestand in seiner Heimat. „Das ist für mich der schönste Platz“, schwärmt der Heimkehrer. Allerdings sollten mehr Leute hier englisch oder auch deutsch lernen, findet der Kosmopolit: „Immerhin leben wir hier zu 95 Prozent vom Fremdenverkehr“. Zu den markanten Anziehungspunkten gehört der Nachbarort Chateau Queyras. Von weitem schon sieht man die Trutzburg auf einem Gipfel thronen. Zur Zeit der französischen Revolution diente das wuchtige Bauwerk zur Verteidigung der Region.
Bei strahlend blauem Himmel schnüren wir am nächsten Morgen die Wanderschuhe. Über den neu angelegten Schmugglerweg bei Saint-Véran wollen wir mittags die Hütte „Refuge de la Blanche“ erreichen. Vor der Tour gibt es noch einen Kaffee in dem mit 2040 Metern höchstgelegenen Dorf Europas. Historische Holzhäuser auf Steinsockeln prägen das Bild des Bergdorfs. Kunstvoll gestaltete Sonnenuhren zieren die Fassaden. Sonnenstunden hatten die Dorfbewohner hier oben immer genügend. Doch sonst war das Leben ziemlich karg. Das kleine, ethnografische Museum Soum gibt Einblick in den Alltag von einst. Drei Generationen samt den Haustieren teilten sich den engen Platz in der Stube. Warm war es da allemal, selbst im kältesten Winter. Aber auch feucht. Im Kleiderkasten hätte sich da schnell Schimmel gebildet. Deshalb bekam der im kühlen und trockenen Schlafzimmer gleich neben dem Betstuhl seinen Platz. Wer sich allerdings in dem einzigen Bett ausstrecken wollte, der musste schon richtig krank sein oder für Nachwuchs sorgen.
Zwischen satt grünen Wiesen mit rot leuchtenden Alpenrosen geht es dann hinauf zur Refuge de la Blanche. Kleine Bergseen umgeben die gemütliche Hütte auf 2500 Metern Höhe. An einem der klaren Gewässer lassen wir uns zum Picknick nieder und wagen zwischendurch eine zaghafte Abkühlung in dem prickelnd frischen Wasser. Das wohlige Gefühl danach und die Dreitausender rundum im Blick locken zum Verweilen. Doch bis zum Tagesziel, dem Col Agnel, liegt noch ein beachtlicher Anstieg vor uns. Je weiter wir uns dem Gipfel nähern, desto dichter wird der Nebel, der die Agnel Spitze einhüllt. Nur der Grenzstein zwischen Frankreich und Italien ist noch gut zu erkennen. Das Po- und Varaita-Tal, unsere nächsten Etappen auf italienischer Seite lassen sich dagegen nur erahnen.
Der Schmugglerpfad endet im mittelalterlichen Chienale am Fuß des Col Agnel. Vor 300 Jahren waren die Franzosen noch die Herren in dem beschaulichen Dorf, das gerade mal 30 Einwohner zählt. Bis heute ist die calvinistische Kathedrale erhalten, die allerdings längst als Privathaus genutzt wird. Das einstige Refugium der Kapuziner, die den Calvinisten die Stirn boten und den katholischen Glauben wieder einführten, wurde dagegen zum Trachtenmuseum umgewandelt. Neben Alltagsgewand ist hier die farbenprächtige Festtagstracht ausgestellt. Verzierungen mit aufwändig geklöppelter Spitze können jedoch kaum über die einstige Armut hinwegtäuschen. Männer und Söhne zogen in den Wintermonaten als „fliegende Händler“ in die französische Provence. Grund für den weiten Fußmarsch war die Verständigung. „Nur dort haben die Leute auch oksitanisch gesprochen“, erklärt Gabriella Brun. Der Dialekt aus Latein und Alltagssprache und die damit verbundene Tradition war lange kein Thema mehr. Seit einigen Jahren findet vor allem die Musik mit den traditionellen Instrumenten wieder Anklang. „In der Provinz Cuneo gibt es jetzt sogar ein „Ghironda-Orchester“, erzählt Gabriella Brun. Auch die Fremdenverkehrsfachfrau aus dem Varaita-Tal hat die Musik für sich entdeckt. Auf einer Drehleier, kleinen Flöten und einer Art Dudelsack spielt sie abends gegen den trommelnden Regen an, während das Kaminfeuer in der Gaststube des Hotels Peiro Groso behaglich knistert.
Wie zum Zeichen des Ausgleichs verhagelt auch im italienischen Vareita-Tal strömender Regen erst einmal unsere Wanderpläne. Selbst das sonst quirlige Saluzzo, wo das Po- und das Varaita-Tal zusammentreffen, , wirkt an dem grauen Regentag wie ausgestorben. Auch der Monviso, der die Provinzmetropole wie eine steinerne Pyramide überragt, bleibt in Wolken verhüllt. Die Markgrafen von Saluzzo gründeten neben ihrer gleichnamigen Stadt auch die nahe gelegene Abtei Staffarda. Dank dem Fleiß der Zisterzienser Mönche entwickelte sich rund um das Kloster ein blühendes landwirtschaftliches Zentrum. Heute waltet der Mauritanerorden über die Abtei und die weitläufigen, fruchtbaren Ländereien, in denen Wein und Obst bis hin zu exotischen Sorten gedeiht. Im gediegenen Klosterrestaurant „Sicilo“, wo die vielfältige Küche des Piemont auf den Tisch kommt, werden vor allem die eigenen Erzeugnisse verwendet.
Einen Kontrast zum reichen Klosterleben kann man auf dem dicht mit Esskastanienbäumen bewachsenen Berg Bracco oberhalb der Gemeinde Sanfront bestaunen. In bescheidenen Hütten aus Stein, geschützt von bizarren Felsvorsprüngen hausten einst die armen Bauernfamilien. Die Balma Boves, wie die einstige Bauernsiedlung heißt, ist nur zu Fuß erreichbar. Dennoch lehnt ein Fahrrad an einer der windschiefen Mauern. „Das gehörte dem letzten Bewohner“, erklärt Silvia Agnello, die das skurrile Museum betreut. Auf der Schulter hat der junge Bauer seinen Drahtesel immer über die steilen Etappen getragen, bis er dann weiter unten in die Pedale treten konnte. Nachdem der treue Sohn seine Mutter bis zu ihrem Ende gepflegt hatte, verließ auch er vor gut 40 Jahren seine unwegsame Bergsiedlung. Vielleicht hat er das Fahrrad, das seitdem an der Hauswand lehnt, einfach nur vergessen.
Am nächsten Morgen taucht die Sonne die Berglandschaft im südwestlichen Piemont in helles Licht. Wie gereinigt wirken die Riesen nach dem vielen Regen. Sogar der Monviso zeigt sich in seiner majestätischen Größe. Zeit, die Wanderschuhe zu schnüren und aufzubrechen zur geplanten Tour um die Seen Fiorenza, Chiaretto und Superiore im Po-Tal. Zu Füßen des Monviso lassen wir uns dann zum Picknick nieder.
Informationen
Ferme de l´Izoard in Arvieux en Queyras – www.laferme.fr
Hotel Peiro Groso in Chiennale / Varaita-Tal – www.lapeirogroso.it
Hotel La Colletta in Paesana / Po-Tal – www.lacoletta.comTourismusbüro Queyras – www.queyras-montagne.com
Varaita – und Po-Tal: Porta della Valle Segnavia – Der Info-Treffpunkt des Bergführers Daniele Orusa ist das touristische Tor zum Varaita – und Po-Tal. Neben Auskünften für Touren im Sommer und Winter gibt es hier Kartenmaterial, Wanderbücher, Ausrüstung und Tipps für Unterkünfte – auf Wunsch bei Capuccino und Gebäck.
Öffnungszeiten: ganzjährig täglich außer Montags von 7 bis 19 Uhr,
im August ist auch Montags geöffnet.