Amiternum und die Lehre aus Trümmern

„Die Trümmer würden wohl kaum unsere Anteilnahme erwecken, wäre Amiternum nicht die Heimat eines so großen Mannes wie des Appius Claudius Caecus, der um 312 vor Christi Geburt die erste Römerstraße und Roms erste Wasserleitung bauen ließ.“ Auch Sallust ist ein Sohn dieser Bergstadt. Und soll nicht auch Pontius Pilatus aus Amiternum stammen? Herr Eckart Peterich, wir müssen doch sehr bitten. In Ihrem wunderbaren „Italien“ -Führer geraten Sie in allen drei Bänden regelrecht in Ektase, wenn sie über „Trümmer“ berichten. Warum nicht hier in Amiternum? Immerhin bewegen wir uns hier auf vorrömischem Grund, im Land der Sabiner. Und unter Federführung der Universität Köln finden hier Ausgrabungen statt. Vielleicht waren Sie ja gar nicht hier an der Grenze zwischen den Regionen Latium und Abruzzen, als Sie dem Gran Sasso einen Besuch abgestattet haben

Wir dagegen waren hier, weil uns das interessiert, was im Schatten der allgemeinen touristischen Aufmerksamkeit blüht. Ja, blüht, denn die „Area archeologica di Amiternum“, die auf zwei Seiten des Flusses Aterno in den 70er Jahren angelegt wurde, besteht aus einem Theater und einem Amphitheater, hat zwei getrennte Eingänge und bietet eine gute Schilderung des Ortes und seiner Geschichte. Aus einem Dorf der Sabiner, das seinen Ursprung auf dem Hügel San Vittorino hatte, entwickelte sich nach der römischen Eroberung eine Präfektur. In  der Hälfte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts entstand nach einem Plan eine Stadt, in der sich öffentliche mit privaten Gebäuden abwechselten. Es gab zahlreiche Tempel, Plätze, Termen, Mosaiken und Säulen. 50 Jahre später war Amiternum die stolze Verwaltungs – Hauptstadt eines Gebietes, das in etwa der heutigen Provinz L´Aquila  entspricht. Eckart Peterich, wie konnten Sie das übersehen?

Da in der Vergangenheit keine Restaurierungsversuche der Örtlichkeiten geschahen, und heute sehr behutsam vorgegangen wird, erhält der Besucher einen guten Eindruck einer frührömischen Stadt. Um festzustellen, was noch älter, was den Sabinern zuzurechnen ist, müsste man Archäologe sein. Jedenfalls wirken alle Mauern und Säulen älter, gröber doch nicht weniger beeindruckend als römische Bauten der imperialen Zeit. Mit aller Vorsicht kann man es mit dem Unterschied zwischen dorischen und ionischen Säulen vergleichen.

Die Entfernung nach Rom beträgt ausweislich eines Meilensteins 83 römische Meilen, das entspricht etwa 125 km. Amiternum war in Roms Blütezeit ein wichtiger Kreuzungspunkt der Via Caecilia, der Via Claudia Nova und zweier Zweige der Via Salaria.

In dem alten Amphitheater geraten wir beim Überschreiten eines roten Absperrbandes in die Fänge einer freundlichen Mitarbeiterin der Museumsanlage. Außer einer Familie, die in den Ruinen Fangen spielten, hatte sie nicht zu beaufsichtigen. Wir gelobten Besserung und wurden in das Verwaltungsgebäude eingeladen. Hier erfuhren wir, dass Amiternum und das in der Nähe gelegene Testruna Ursprungsorte der Sabiner sind, und diese sich mit italischen Völkern wie den Samniten rumschlagen mussten. 293 v. Chr. eroberten die Römer die Stadt.

Die Stadt blühte in der Kaiserzeit und wurde Sitz eines Bischofs. Ihre damalige Einwohnerzahl wird auf 20 000 bis 25 000 geschätzt. Ein Erdbeben 346 nach Christus leitete den Niedergang ein. Im Mittelalter, um das Jahr 1250, wurde die Stadt aufgegeben; die Bewohner wechselten in das nahe L’Aquila, das auch den Bischofssitz übernahm.

Natürlich fragen wir im Museum besonders nach der sabinischen Zeit. Aber es handele sich bei den Ruinen überwiegend um augusteisches Mauerwerk, erfahren wir. Die Sitzreihen sind inzwischen teilweise restauriert. Nach langem Stillstand finden jetzt wieder intensive Untersuchungen statt. Seit 2006 beschäftigt sich ein vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Projekt der Universität Bern, dann der Universität zu Köln mit der Stadt mittels gezielter Ausgrabungen. Neu nachgewiesen wurden das Forum mit Basilika, eine große Domus der lokalen Oberschicht sowie mehrere Heiligtumskomplexe.(Untersuchungen zur Siedlungs- und Wirtschaftsstruktur im zentralen Abruzzenraum in römischer Zeit, Kölner Schriften zur Archäologie. ISBN 978-3-95490-320-7.)

So fand man in den „ungestörten Resten“ einen ungewöhnlichen Pithos mit wahrscheinlich oskischen Inschriften, womit die Vermutung gestärkt wurde, dass vor der römischen Eroberung eine sabinischen Besiedlung existiert haben musste. Ein Pithos ist ein getöpfertes Vorratsgefäß.

Natürlich wäre es schön gewesen, eine direkte Verbindung zum Raub der Sabinerinnen herzustellen, was nicht gelang. Es wird wohl so gewesen sein, dass die Frauen, die zu der Riesenfête des Romulus  zu Ehren des Neptun Equester eingeladen waren, aus Cures stammten, das deutlich näher an Rom liegt. Die Römer dieser Zeit, im 8. Jahrhundert vor Christi Geburt, waren eine ungezügelte Horde junger Männer. Nur durch Bezug auf Troja und Aeneas versuchte Romulus, seiner Stadt eine Legitimation und historische Tiefe zu geben.

Jedenfalls mangelte es an Frauen, und die umliegenden Städte verweigerten den Römern das Heiratsrecht. Bei der F ête in der Stadt kam es zu Übergriffen, in deren Gefolge gar zu Kriegen. Der Mythos will, dass die geraubten Sabinerinnen die Auseinandersetzungen beendeten, indem sie flehten, Väter und Ehemänner mögen sich nicht gegenseitig töten. Ihre Eltern, die in Trauerkleidung herumliefen, waren nicht begeistert, aber Romulus fiel mit einer Armee über sie her und lehrte sie, dass Wut ohne Stärke wertlos ist. Bis etwa 270 v. Chr. konnte Rom seine Vorherrschaft über Mittel- und Unteritalien (von der Po-Ebene bis zur Südküste) sichern.

Und die Sabiner? Verschwunden. Nur der Name ist in den „sabinischen Bergen“ noch erhalten. Und die Lehre aus Amiternum? Man sollte zwar nicht immer nach den Lehren fragen. Aber vielleicht diese: Aufzupassen, dass man sich und seine Identität nicht verliert, und sei es in einer Riesenfête.

Erinnert irgendwie an Sylvester auf der Domplatte in Köln zum Jahreswechsel 2015/16.

BU: Amiternum, dahinter der Gran Sasso. Copyright: hhh

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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