Görlitz, eine Annäherung mit und ohne Maske

„Ihr habt mit Görlitz bei der Wiedervereinigung das Tafelsilber der DDR bekommen“. So hatte ich das noch nie gesehen. Aber da ich so freundlich im Hotel Silesia empfangen wurde, obwohl ich den falschen Eingang, nämlich den des Restaurants genommen hatte, ließ ich mich widerstandslos in ein Gespräch einbinden, das zudem in einem heiteren Ton stattfand. Ich war ein Fremder und durfte doch dazu gehören. Außerdem wollte ich lernen. Und Karten im Treppenhaus des Hotels zeigten, dass Görlitz, das man die östlichste Stadt Deutschlands nennt, zu Niederschlesien gehört(e). Heute gehört es (auch) zu Sachsen. Zu unterscheiden ist also zwischen Politik, Kultur und Geschichte. Und die Rolle, die man selbst spielt, muss vorsichtig interpretiert sein.

Auf dem Weg vom Bahnhof, der eine schöne Jugendstil- Empfangshalle aus dem Jahre 1907 hat, zum Hotel sah ich die einzigartige, zusammenhängende Gründerzeitbebauung des Südviertels, auf welche meine neuen Bekannten mit dem „Tafelsilber“ wohl anspielten. Ich wusste zumindest, warum Görlitz nicht zerstört wurde. Die russische Armee wurde bei ihrem Vormarsch gestoppt, und konzentrierte sich dann auf Berlin, die Alliierten wollten nicht versehentlich den Verbündeten bombardieren, sie versenkten dafür Dresden in einem lodernden Inferno.

Wer also wollte ich sein bei meiner ersten Begegnung mit Görlitz? Welche Rolle hatte ich im Sinn? Sicherlich nicht die, Tafelsilber zu inspizieren.

Selbstfindung mit “Malfi!”

Auf wundersame und doch simple Weise half mir ein Theaterstück bei der Selbstfindung: „Malfi!“. Die Inszenierung des Gerhart-Hauptmann-Theaters im Alten Güterbahnhof Görlitz verarbeitet das blutige  Drama der Herzogin von Amalfi und ihrer beiden rachsüchtigen Brüder. Daniel Morgenroth, Intendant des Theaters und Regisseur des Stücks, machte es darüber hinaus „begehbar“. Das heißt, er bot dem Publikum die Möglichkeit, selbst immer neue Überraschungen in der Kulisse zu entdecken. Es wurde überall im Alten Güterbahnhof und ständig gespielt, getanzt, geredet. Die Bühne war die Kulisse und umgekehrt. Immersives Theater nennt man das. Aber während etwa in der Klimt-Performance in Leipzig, die auch immersiv genannt wurde, das Publikum in dem Raum saß oder lag und sich das Geschehen an den Wänden und an der Decke abspielte, konnte man die Darsteller im Alten Güterbahnhof anfassen, wenn man gewollt hätte. Erreicht wurde das mit einem verblüffenden Trick: Die Zuschauer mussten alle eine weiße Augenmaske tragen, Ordner eine schwarze. Was als Unterscheidung zu den unmaskierten Schauspielern gedacht war, hatte den geradezu gegenteiligen Effekt: Die Zuschauer wurden Teil des Ensembles als Komparsen.

Und so hielt ich es auch währende meiner Tage in Görlitz. Ich gab mich immer als unwissender Fremder, Nichtbeteiligter an ihren Dramen zu erkennen, und wurde freundlich akzeptiert von einer frischen, pulsierenden Stadt. Manchmal kam sie mir vor wie auf Droge. Es war kein stürmisches ins Herz Schließen, kein „trink doch eene mit“ wie in Köln. Es war ein distanziertes, aber herzliches „Schau dich nur um.“

Es war auch kein nostalgisches Äppelwoi-Schunkeln wie etwa in Frankfurt. Görlitz ist Avantgarde. Nicht nur was das Theater angeht, auch in Bezug auf seine Museen. So befasst sich das Senckenberg Museum für Naturkunde intensiv mit der Digitalisierung, führt themenspezifische  Kongresse durch und präsentiert entsprechende Ausstellungen. Im Juli 2023 sind es „Grundwasser lebt“ oder „der tropische Regenwald“. Und da die Kinderakademie einen Gastbeitrag im Rahmen der Euroregion Neiße mit dem Titel „Mikolaja Kopernika i Marii Curie“ bringt, wohinter sich wohl Kopernikus und Madame Curie verbergen, komme ich um eine Ortsbestimmung dieser quirligen Stadt nicht herum.

Ortsbestimmungen

Fangen wir an mit der Euroregion Neiße. Das ist eine europäische Kooperation der Landkreise Bautzen und Görlitz auf deutscher Seite, von 43 Gemeinden und ihren Kreisen auf polnischer und 131 Gemeinden und ihrer Landkreise auf tschechischer Seite. Es gibt eine regelmäßige Mitgliederversammlung und zahlreiche Aktionen  unterschiedlicher Art.

Dann gibt  es die Europastadt Görlitz, das ist der Name einer GmbH, die sich für Görlitz und Zgorzelec die „Förderung von Wachstum und Image des Wirtschafts- und Tourismusstandorts“ auf die Fahne geschrieben hat. Sie ist eine 100 prozentige Gesellschaft der Stadt Görlitz.

Görlitz heißt auf Oberlausitzisch: Gerlz, Gerltz oder auch Gerltsch, auf Obersorbisch Zhorjelc. Es ist die Kreisstadt des Landkreises Görlitz im Freistaat Sachsen und größte Stadt der Oberlausitz. Sie liegt an der Lausitzer Neiße, die seit 1945 die Grenze zu Polen bildet und die östlichen Stadtteile auf der anderen Seite des Flusses abtrennt. Diese Stadtteile bilden die eigenständige polnische Stadt Zgorzelec.

Görlitz bildet zusammen mit Bautzen und Hoyerswerda einen oberzentralen Städteverbund. Man nennt Görlitz auch das flächengrößte, zusammenhängende Denkmalgebiet Deutschlands, weil es nicht zerstört wurde.

Die Lausitz ist eine Region, die sich von Südbrandenburg bis Ostsachsen erstreckt. Die Oberlausitz, die nur auf Deutsch so heißt und regional unterschiedliche Namen hat, war einst politisch eigenständig. Heute gehört sie zu 67 Prozent zu Sachsen sowie zu 30 Prozent zu Polen und zu 3 Prozent zu Brandenburg. Der seit 1945 polnische Teil der Oberlausitz zwischen den Flüssen Queis im Osten und der Lausitzer Neiße im Westen gehört administrativ zur Woiwodschaft Niederschlesien (Dolnośląskie). Die alte Hauptstadt der Oberlausitz ist Bautzen.

Niederschlesien ist der nordwestliche Teil der Region Schlesien. Ab der Mitte des 14. Jahrhunderts bis 1742 war es ein Nebenland der Krone Böhmen. Danach gehörte es zu Preußen. Als Folge des Zweiten Weltkriegs fiel 1945 sein Teil östlich der Neiße an Polen. Dieser größere Teil Niederschlesiens bildet heute die Woiwodschaft Niederschlesien. Der kleinere, der Oberlausitzer Teil, gehört seit 1945 zu Sachsen.

Mit dieser Orientierung, die meine Bekannten aus dem Silesia hoffentlich zufrieden gestellt hat, die bei mir aber immer noch mehr Fragen als Antworten in die Stirn hinter der (gedanklich getragenen) Augenmaske hervorruft, mache ich mich vom Bahnhof aus an die Erkundung der Stadt. Wie gesagt, ich bin und bleibe ein Fremder, genieße es, für einige Stunden Teil des Ensembles der Stadt zu sein, wenn auch nur als Komparse. Ich weiß ja nicht einmal, wie viele Menschen in Görlitz sorbisch sprechen. Es gibt ein zweisprachiges Theater, das einzige in Deutschland, das deutsch-sorbische Volkstheater. Es befindet sich allerdings in Bautzen. Ich weiß auch nicht, ob die Kinder in Zgorzelec Deutsch als erste Fremdsprache und die in Görlitz entsprechend Polnisch lernen.  Im Augustum-Annen-Gymnasium jedenfalls ist Polnisch erst zweite Fremdsprache nach Englisch. In Zgorzelec kam ich weder mit Deutsch noch mit Englisch weiter, als ich die Ausstellung von Maugosia Sycz im Städtischen Kulturhaus (Miejski Dom Kultury) besuchen wollte. Ich fand sie trotzdem, und die wunderbaren Bilder, in denen das Licht in der Natur im Mittelpunkt steht, brauchen keine Übersetzung.

Rundkurs durch die Innenstadt

Für die Innenstadt von Görlitz folgte ich einem empfohlenen Rundkurs, der durch viele Phasen der mitteleuropäischen Baustile führt, von der Spätgotik über die Renaissance, den Barock und die Gründerzeit in den Vierteln, welche die Altstadt umgeben, wie eben die Südstadt.

Über die Berliner Straße laufe ich zum Postplatz.  Wie kann ein Brunnen nur Muschelminna heißen? Nur Schauen, nicht meckern! Rufe ich mich zur Ordnung. Eine Wilhelmine mit Muschel über dem Kopf nennt man eben Muschelminna. Weitere Objekte der Handys und Fotoapparate der Touristen sind das Postgebäude und die Gerichte. Bis zur Frauenkirche sind es nur ein paar Schritte, sie ist ein schlichtes Gebäude des Spätbarocks. Noch ein paar Meter weiter, und ich stehe auf dem Marienplatz. Vor mir der Dicke Turm, das Naturkundemuseum und das Görlitzer Warenhaus. Seine Tore sind verschlossen, zuletzt hat Daniel Morgenroth, ja der von „Malfi!“, hier das „Junge Konzert“ mit Hexe Hillary auf die Bühne gebracht.  Wann die Sanierung des Jugendstil-Kaufhauses beginnt, wissen wohl weder der Bürgermeister noch der Investor. Jedenfalls denke ich an den Film „Grand Budapest Hotel“, der hier gedreht wurde, und gehe weiter zum Dicken Turm. Offiziell heißt er Frauenturm, aber die fröhlichen Einheimischen haben ihn umgetauft. Er ist einer der  vier Görlitzer Wach- und Wehrtürme und stammt aus dem Jahre 1250. Auch das bereits erwähnte Senckenberg Museum für Naturkunde befindet sich hier am Marienplatz. Die Steinstraße wenige Schritt weiter stoße ich auf den Reichenbacher Turm am Obermarkt und den Kaisertrutz. Seinen Name verdankt er der Geschichte, dass die schwedischen Truppen mit seiner Hilfe Kaiser Ferdinand II. vom Einmarsch in die Stadt abhielten. Heute beherbergt er das Kulturhistorische Museum. Vom Obermarkt geht´s zum Untermarkt zum Rathaus, „Flüsterbogen“, zur „Zeile“ und zum Schlesischen Museum. Auf dem Weg dorthin kann man sich bei den Görlitz-Informationen all das Informationsmaterial besorgen, das diesen Stadtrundgang zu einer wirklichen Expedition werden lässt. Man kann auch an organisierten Rundgängen teilnehmen. Der durch die historische Altstadt dauert etwa 90 Minuten. Zu dem, was mit den „anonymen Spendermillionen“ geschehen ist, welche die Restaurierung der Stadt maßgeblich finanziert haben, kann man mit Begleitung gehen, zum „Heiligen Grab“, zu den „Jugendstilperlen“ und zu anderen Zielen in der Europastadt mehr. Auch eine Führung zur Gedenkstätte Stalag VIII A im „Europäischen Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur“ in Zgorzelec wird angeboten. Wer sich über das Elend der Kriegsgefangenen informieren will, sollte teilnehmen. Was sie nicht vorrätig haben, ist das Buch „Görlitz unterm Hakenkreuz“ von Uli Suckert, das fachkundig und detailliert die Zeit zwischen 1933 und 1945 schildert.

Vom Untermarkt hat man einen schönen Blick auf die Türme der Peterskirche. Er selbst ist mit dem Rathaus und seinem unproportionierten, weil viel zu großem Turm, dem Neptunbrunnen und weiteren prachtvollen Gebäuden der sogenannten Zeile vermutlich der „Tafelsilberplatz“ der Stadt. Und das Schlesische Museum hat hier seine Heimat. Es ist im ältesten Bürgerhaus Deutschlands – dem Schönhof  aus dem Jahre 1526 – untergebracht. Der Fokus der Ausstellungen liegt auf der Kulturgeschichte Schlesiens.

Ich könnte noch weiter gehen zur Nikolaikirche und zum Grab des Philosophen Jakob Böhme oder von Goethes Muse Minna Herzlieb. Bei einer Lesung an ihrem Grab im Mai enthüllte die Schauspielerin Blanche Kommerell, dass die Bezeichnung „Muse“ wohl ziemlich untertrieben ist. Dieser Goethe, nun gut, ich bin ja nur Komparse.

Aber ich will ja noch über die Stadtbrücke nach Zgorzelec ins Städtische Kulturhaus zu Maugosia Sycz und laufe daher die Neißstraße bis zum Fluss, dann die Uferstraße entlang bis in den Stadtpark.  Linkerhand von der Stadtbrücke sehe ich  die Stadthalle, die ein lost place geworden ist, aber früher bestimmt einmal das Zentrum der Stadt war. Früher, das Denken an Früher führt nicht weiter, jedenfalls wenn man die Augenmaske des Komparsen aufhat. Der Weg auf der polnischen Seite der Neiße zum Kulturhaus, der ehemaligen Oberlausitzer Gedenkhalle ist nicht weit. Er führt am Europa Miasto vorbei, einem Gedenkstein für die Bemühungen zur friedlichen Gemeinsamkeit. Natürlich kann man nicht alles ablaufen, aber mit dem Material der Görlitz Information kann man es schon bestimmt eine Woche aushalten.

Görlitz hat gezählt 4000 Gebäude, die man besuchen und bewundern kann. Wenn man bedenkt, wie knapp die Stadt ihrer Vernichtung gegen Ende des Krieges entgangen ist, dass sie noch 1945 zur „Festung“ erklärt wurde, dass die DDR schon Sprenglöcher gebohrt hat, um die Altstadt flach zu legen – die Löcher kann man sehen- dann muss man Gottfried Kiesow, dem Vorsitzenden der Deutschen Stiftung für Denkmalschutz, recht geben, der Görlitz als eine der schönsten Städte Deutschlands bezeichnete, und natürlich meinen Freunden aus dem Silesia, die es als „Tafelsilber“ bezeichneten.

Die Geschichte ist eher unspektakulär. 1071 wird Görlitz als „Gorelic“ erstmals erwähnt. Es ist ein slawisches Dorf, das aber an der Via Regia liegt. Kaiser Heinrich IV. schenkt es dem Bischof von Meißen, der lädt Siedler aus Thüringen und Franken ein, sich in dem Handelsplatz niederzulassen. Ende des 13. Jahrhunderts schützt eine Mauer Stadt. Dann ist 600 Jahre Ruhe.

Was danach passierte ist bekannt. Eine Episode ist es wert erwähnt zu werden. Als ich von Maugosia Sycz am Ufer der Neiße zurück gehe, stoße ich auf den „Bulvard Grecki“ und lasse mir den Namen des „Griechischer Boulevard“ erklären. Ab 1948 kommen viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland, vertriebene Kommunisten mit ihren Familien in der Stadt an. Sie finden eine Geisterstadt, die Deutschen sind verschwunden, viele ihrerseits vertriebene Polen scheuen sich, in die leeren Häuser einzuziehen. Die Griechen bleiben, aber ihre Ansiedlung bleibt zunächst geheim. Heute hat Zgorzelec rund 30 000 Einwohnern, Görlitz knapp das Doppelte. Die Bewohner leben friedlich miteinander. Man mag es nicht glauben, aber es funktioniert. Man muss seine eigenen Vorurteile ablegen, nicht die Maske des „Malfi!“, sondern die von den Medien über das Unwesen der Rechten fabrizierte.

Es gibt in Görlitz eine mobile Beratungsstelle gegen rechts, die fünfte in Sachsen. Denn es gebe in Ostsachen „verfestigte Strukturen im neonazistischen Spektrum“ heißt es dort. Ich spüre davon nichts. Aber bei der Stichwahl für das Amt des Oberbürgermeisters 2019 gewann der CDU-Kandidat Octavian Ursu nur knapp mit 55,2 Prozent vor dem AfD-Kandidaten. Das Tafelsilber des Ostens blieb ohne Flecken, und die Sonneberger sollten es auch mal mit einer Beratungsstelle probieren.

Dann haben meine Freunde aus dem Silesia noch eine Überraschung für mich, eine Stadtrundfahrt mit dem „Görliwood Entdecker“: Doch die Drehorte von „Grand Budapest Hotel“, „Der Vorleser“ oder den „Walk of Görliwood“ hatte ich schon auf meinem Fußmarsch entdeckt  – mit und ohne Maske.

BU: Blick über die Neiße auf die Peterskirche, Copyright: hhh

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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