Die Ausläufer Nikosias begrüßen einen schon bei Latsia, das man als verschlafenes Nest in Erinnerung hat. Jetzt wälzt sich die zyprische Hauptstadt dem Ankommenden auf der A 1 schon bald 20 Kilometer vor der Stadtgrenze entgegen. Das hatte ich nicht erwartet, dass erstens die wirtschaftlichen und politischen Gewichte sich nicht aus der geteilten Stadt Richtung Limassol verabschiedet haben und dass zweitens die schweren Folgen der Finanzkrise überwunden zu sein scheinen. Jedenfalls begrüßte mich Nikosia als kraftvolle Stadt mit beeindruckender Bautätigkeit.
Um mich im Unbekannten nicht zu verlaufen, steuerte ich an, was ich kannte, das Freiheits-Monument und das Famagusta-Tor. Beide liegen an der alten Stadtbefestigung, welche die Stadt den Venezianern verdankt. Das Elefteria-Denkmal wurde im Jahre 1973 geschaffen, um an die Kämpfe gegen die britischen Besatzer in der Zeit von 1955 bis 1959 zu erinnern. Es befindet sich an der Podocattaro-Bastion. Eigentlich sollte um den Sockel Wasser als Symbol der Insel Zypern laufen. Oben breitet die Freiheit ihre Arme, segnet das Militär, Arbeiter, Kirche, Gefangene und das übrige Volk. Zwei fehlende Figuren sollten Erzbischof Makarios und den Anführer des Kampfes gegen Großbritannien und für einen Anschluss an Griechenland, Georgios Grivas, darstellen. Man verzichtete darauf. Die Briten sind noch da, betrachten zwei Stützpunkte als ihr Staatsgebiet, zusätzlich haben sich die Türken fast 38 Prozent Zyperns gegriffen, darunter die Hälfte Nikosias. Die Schutzmacht Großbritannien wollte nicht tätig werden, die Schutzmacht Griechenland konnte nicht, und von dem damaligen Außenminister der USA, Henry Kissinger, ist der Ausspruch überliefert, „our friends have gone to far“. 38 Prozent waren wohl nicht konzediert. Kissinger ist der Mann, der auf den Azoren eine Unabhängigkeitsbewegung pushte, als die Obristen in Lissabon an der Macht waren, und der der Ukraine die Selbstaufgabe empfiehlt, damit Putin Ruhe geben kann.
In Nikosia ist die Geschichte heute noch präsent, obwohl der türkische Überfall schon im Jahre 1974 geschah. Vom Famagusta-Tor ist man in wenigen Minuten an mit Tonnen und Stacheldraht versperrten Straßen, einer ständigen Mahnung, die sich durch die Stadt zieht. Hinter dem Stacheldraht sind die Häuser in der von schwedischen UN-Soldaten kontrollierten Pufferzone verfallen. Die historische Bürde führt dazu, dass man sich fast als Voyeur eines unmenschlichen Dramas fühlt, wenn man die Grenze abwandert vom Famagusta-Tor zum Ledra-Palast, wo es einen Durchgang ins türkisch besetzte Gebiet gibt, um dort billig gefakte Klamotten und Mitbringsel zu erwerben. Der Euro wird gerne als Zahlung genommen, auch in der „Türkischen Republik Nordzypern“, die nur von Ankara anerkannt wird, und in der auch links gefahren und Geld verdient wird.
Pragmatismus regiert die Stadt, wie er auch von den Händlern und Handwerkern gelebt wird, die von den billigen Mieten profitieren, wenn ihre Gewerbestätten eine Rückwand haben, welche die Grenze bildet. Auch Kulturschaffende und Utopisten, welche ein ökologisches Nikosia von Morgen planen, finden dort im Grenzschatten ein Zuhause. Das Famagusta-Tor, eigentlich ein Platz für Ausstellungen, fand ich geschlossen.
Mit allen Zyprioten kommt man leicht ins Gespräch, mit den Schweden nicht. Die Unterhaltungen, die man problemlos auf Englisch führen kann, drehen sich um die russischen Residenten und Touristen und um russisches Schwarzgeld. Die mit Ausweis verstecken sich in Limassol, 40 000 sollen es sein, die Besucher scheuen den Umweg über Istanbul, bleiben lieber direkt im Nordteil Zyperns oder ganz weg. Das Schwarzgeld wurde durch die Bankkrise dramatisch reduziert, ist aber noch da, ebenso wie die zahlreichen Banken, die in Nikosia ihr Geschäft machen.
Über Covid redet kaum einer noch, für Zyperns und Nikosias Tourismusbranche waren die vergangenen drei Jahre schlecht. Man verschweigt sie gerne. Reisende aus Russland und der Ukraine sorgten früher für gut ein Viertel des Umsatzes. Nur Briten ließen und lassen noch mehr Geld im Land.
Dass auf Druck der EU die „Goldenen Pässe“ für Leute aus Russland, China und den arabischen Ländern, die jeweils zweieinhalb Millionen Euro in eine Luxusimmobilie investierten, abgeschafft wurde, findet in den Gesprächen Zustimmung. Sorge macht den Menschen die Drohungen Erdogans, die militärische Präsenz auf der anderen Seite der Grenze zu verstärken. Das Ende des US-Waffenembargos gegen Zypern liefert ihm dazu die Vorlage. Für den zyprischen Präsidenten Nikos Anastasiades war es „ein Meilenstein“, auf dem Weg wohin konnte er nicht sagen. Nikos, Nana und die anderen, mit denen ich sprach, teilten die Begeisterung ihres Präsidenten nicht. Dass die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sich demonstrativ nach ihrem Gespräch mit Zyperns Außenminister Ioannis Kasoulides auf die zyprische Seit stellte, fanden sie gut, „was hätte sie auch sagen sollen?“ Die Republik Zypern ist EU-Mitglied. Und „die EU hat uns in der Schuldenkrise gerettet.“ Aber Deutschland könnte tatsächlich konkret etwas „für uns tun“, meinte Costas, der sich angeboten hatte, mit mir in die Kathedrale Agios Ioannis zu gehen. „Es könnte verbieten, dass deutsche Firmen wie die Finanzpraxis oder die FFG Verwaltungsgesellschaft Reisen nach und Immobilienverkäufe in Nordzypern anbieten. Dort wird illegal fremdes Eigentum verscherbelt.“ Auf dem Weg zur Kathedrale , der uns an einem panzyprischen Museum, am panzyprischen Gymnasium und am Museum des „nationalen Kampfes“ vorbeiführt, wird deutlich, dass nicht die Neubauten und Hochhäuser in der Peripherie die Stadt ausmachen, sondern die geteilte, die geschundene Mitte, das zerrissene Herz. „Und die Kirche beteiligt sich noch daran, das erbaute Erbe zu zerstören, und wird von der Regierung nicht gestoppt. Der ehemalige Erzbischof hatte zwar versprochen, zerstörte Gebäude innerhalb von sechs Monaten wiederaufzubauen. Aber wenn die Kirche schon etwas verspricht“. Costas ließ ein bitteres Lachen hören. „Da könnte Berlin uns doch helfen.“ Doch ich musste ihn enttäuschen, die orthodoxe Kirche Zyperns ist eine autokephale Kirche. Sie darf ohne Einmischung einer anderen Instanz selbst ihr Oberhaupt wählen und hat große politische Macht, und das seit dem Jahr 431. „Da wird sich auch Georgios III, der neue Erzbischof, nicht von Baerbock beeinflussen lassen. Außerdem hat er sich auf die Seite der ukrainischen Orthodoxie gestellt. Das macht ihn unantastbar.“ „Er war übrigens auf dem Gymnasium, an dem wir gerade vorbei gegangen sind. Studiert hat er in Athen – Chemie“, erwiderte Costas trocken.
Der Weg zur Kathedrale gleich in der Tat einem Weg durch museale Gebäude und Freiflächen. Vielleicht entsteht hier wirklich ein Ödland. Die Kirche Agios Ioannis ist aus hellbraunem Stein gebaut, ein einschiffiger Bau im fränkisch-byzantinischen Stil mit Tonnengewölbe und einem schlichten Turm. Die Kathedrale Agios Ioannis ist das einzige Gotteshaus in Nikosia, dessen Fresken im Inneren vollständig erhalten geblieben sind. In seiner Nähe liegen die neue, prunkvolle Kirche des heiligen Barnabas im griechischen Stil der Kreuzkuppelkirche, in der Georgios III in sein Amt eingeführt wurde, und der Palast des Erzbischofs.
„Was wird nun deiner Meinung nach aus Zypern?“ wollte ich von Costas wissen. „Morgen ist Ostern ágio pás-cha“, sagte er, „dann feiern wir die Auferstehung. Vielleicht kann uns ja Erzbischof Georgios etwas dazu in seiner Predigt sagen. Mein Ostern wird in einem Monat der Wahltag in der Türkei sein, vielleicht verliert Erdogan nach 21 Jahren seine Macht und wir bekommen mit Kemal Kilicdaroglu einen Präsidenten, mit dem man reden kann, und der Streit um die Gasfelder im Mittelmeer und die Drohung eines erneuten türkischen Angriffs hören auf . Und vielleicht werden irgendwann in Nikosia die Fässer von den Straßen gerollt. 50 Jahre nachdem sie aufgestellt wurden. Ich glaube zwar nicht daran, aber wozu gibt es Ostern?“
BU: Versperrt seit bald 50 Jahren; Grenzbarriere in Nikosia. Copyright: Hans-Herbert Holzamer