Lanzarote; kein Bock auf Stress

Als er aufwachte, wusste er nicht wo er war. Georg hatte so tief geschlafen, wie gefühlt seit Jahren nicht. Er hatte einfach geschlafen, wie ein Kind oder ein Stein, was man so sagt. Er hatte keine Alpträume gehabt, keine Panikattacken. Denn keine Terminsache drohte zu platzen, es gab keine Abmahnungen. Er wusste nicht, was er geträumt hatte, er war einfach weg gewesen. Ja, der Termin beim Betriebsarzt, der war real, der war nicht zum Träumen. Den gab es wirklich. Es sollte geklärt werden, ob er in seiner Funktion als Chef des Materialeinkaufs überfordert war. Er hatte in den letzten Wochen bei Fehlen immer sofort eine AU, eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen. Dabei waren es nicht er und seine Tätigkeit, die zu Ausfällen geführt hatte, es war das Klima am Arbeitsplatz gewesen, das ständige Just in time, die Missgunst der Kollegen. Das war Georgs feste Meinung. Aber sein Chef stellte sich taub. Und der Termin beim Betriebsarzt wäre die Krönung gewesen. Aber er hatte die Zeit genutzt. Georg war nicht dumm. Und weil er nicht dumm war, deswegen war er heute zum ersten Mal ohne Alpträume aufgewacht. Auf Lanzarote. Gestern war er mit einem Direktflug aus Düsseldorf gekommen. Und die Feststellung über seine Low- oder Underperformance, ja von ihm aus über seine Demenz, müssten sie nun ohne ihn treffen.

Es gibt auf Lanzarote viele wie Georg. Denn Auswandern ist für viele Deutsche ein Traum. Und eines der beliebtesten Ziele sind die Kanarischen Inseln, vor allem wegen ihres milden und sonnigen Klimas. Dass das Leben auf Lanzarote preiswerter ist als in Düsseldorf, hatte er rasch erfahren. Er hatte sich in Playa Blanca ein Scheiben-Haus gemietet, wie Julie Zeh in ihrem Buch „Neujahr“ die aneinandergereihten Häuschen der Urbanisationen genannt hatte. Auf Dauer, vielleicht würde er sich aber in Femés ein Haus kaufen, Geld hatte Georg genug. Er wollte sich vielleicht auch einen Zopf aus seinen grauen Haaren  wachsen lassen, als Stinkefinger seinem bisherigen Leben gegenüber. Eine Aufenthaltserlaubnis würde er als Deutscher nicht benötigen, das Beantragen einer Identifikationsnummer wäre wohl kein Problem. Und irgendwann würde ihm auch seine Rente nach Lanzarote überwiesen werden. Ins EU-Ausland wird die Rente gezahlt, wenn der Aufenthalt dort dauerhaft und nicht nur vorübergehend ist. Und dauerhaft sollte es nach Georgs Willen schon sein. Er hatte jetzt alle Zeit der Welt. Ohne AU, ohne Betriebsarzt.

Der Name Georg ist erfunden, dass er aus Düsseldorf stammt, nicht. Aus München gibt es keine Direktflüge auf diese kanarische Insel, was zu Spekulationen verleiten könnte, dass es für Werktätige in der bayrischen Hauptstadt nicht die Verlockung gäbe, erniedrigenden Terminen beim Betriebsarzt zu entgehen. Aber man kann ja umsteigen, etwa in Düsseldorf, oder nach Fuerteventura fliegen und dort die Fähre nehmen, von Corralejo nach Playa Blanca benötigt sie gerade einmal eine knappe halbe Stunde.

Nun kommen nicht nur Menschen nach Lanzarote, die keinen Bock mehr auf beruflichen Stress haben, aber es sind viele. Andere kommen auch wegen des ewigen Sommers, weil sie den europäischen Winter vermeiden wollen. Andere verbringen ihren Urlaub hier. Aber die Dauerurlauber prägen das Bild jedenfalls am Strand. Und da Lanzarote wie jede Insel von Meer umgeben ist, aber nur 845 Quadratkilometer groß, Berlin ist 50 Quadratkilometer größer, Fuerteventura sogar 1000, ist Küste überall. Und die Neubürger haben ihre eigenen Identifikationen. Briten zeigen gerne den nackten, geröteten Oberkörper, Deutsche sieht man in kurzen Hosen und Leinenschuhen, gerne mit leichtem Rucksack, der Sportlichkeit signalisieren soll, gerne auch mit vom Gummi gefassten Zopf.

Natürlich hat man versucht, diese überwiegend älteren Zeitgenossen mit Wohnraum zu versorgen. Und so hat sich fast überall auf der Insel eine Wucherung von weißgetünchten, in Urbanisationen zusammengefassten Häuschen gebildet. Man findet sie von Playa Blanca im Süden bis zur Punta Fariones im Norden. Die Verwaltung hatte Mühe, das Naturschutzgebiet an der Südostspitze rund um den Playa de Papagayo und die anderen Sandstrände vor der Gier der Bauträger zu schützen. Ein Abstand von 20 Minuten Fußweg konnte erhalten bleiben.

Doch der Kontrast könnte nicht größer sein. Denn wer glaubt, Lanzarote wäre eine Insel des Betreuten Wohnens, der irrt. Juli Zeh beschreibt in „Neujahr“ die Gegend um Playa Blanca und Femés mit eindrucksvoller Genauigkeit. Gut, ihr Held Henning, der von Panikattacken geplagt wird, könnte ein Aussteiger wie Georg sein, ist es aber nicht. Der Autorin ging es auch weniger um die Geheimnisse der Insel als die Abgründe in der Seelenwelt einer Familie. Lanzarote hat durchaus  seine Mysterien, dafür sorgt schon alleine der Wind, der überall wo er bläst, Geschichten schafft. Und hier bläst er gerne. Und wer sich mit César Manrique befasst, der betritt schließlich eine ziemlich windige Ecke Lanzarotes gegenüber der Insel Graciosa, und die Überfahrt dorthin sorgt bei vielen für ein grünes Gesicht, eben wegen  der Winde und der Strömungen zwischen den Eilanden. An César Manrique kommt niemand vorbei, der sich mit Lanzarote beschäftigen will. Hier an der Nordspitze der Insel hat er einen üblen Auswuchs des Tourismus verhindert.  Sein „Mirador del Rio“  war der Gegenentwurf zu einem Hotel, das mit einem Fahrstuhl zum Strand verbunden werden sollte und die ganze Küste gegenüber von Graciosa verschandelt hätte. Sein Aussichtspunkt zum Fluss, der 1 Kilometer breiten Meerenge,  wurde 1974 eröffnet und zählt noch heute zu den avantgardistischen Bauwerken weltweit. Denn Manrique bewies, dass man bauen und doch die Natur bewahren kann. Ursprünglich war dieser Aussichtspunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Festung „Bateria del Norte”, der Geschützstand des Nordens, und sollte die Amerika vom Angriff auf die Kanaren abhalten. Manrique ist es auch zu verdanken, dass die wucherartigen Urbanisationen nur eingeschossig gebaut werden dürfen. Leider ist der am 24. April 1919 in Arrecife Geborene nicht mehr unter uns, um aktuelle Auswüchse zu verhindern. Aber er hat nicht nur den Mirador del Rio hinterlassen. Auch der Jardin de Cactus, das Monumento al Campesino , sein Haus und Museum in Haria und andere Meisterwerke der Architektur und der Kunst sind einen Besuch wert. Manrique  brachte die Avantgarde nach Lanzarote. Und wer meint, das passe so gar nicht zu den heutigen Gästen der Insel, unterschätzt vielleicht Georg und seine Freunde, die vielleicht nur den Absprung von der Funktionalität Düsseldorfs brauchten, um ihr Interesse an der Lust des eigenen Lebens und den künstlerischen Dingen anderer freizulegen.

Und dann gibt es noch die Natur, die nicht nur aus Wind und Stränden besteht. La Montaña del Fuego, die Berge des Feuers im Nationalpark de Timanfaya, sind 32 Vulkane, deren Auswürfe die Landschaft zwischen den Bergen unter einer braun-rötlichen Schicht bedeckt haben. Dies geschah im jahre 1736, wiederholte sich 1824, und außer Flechten wächst dort nichts. An einigen Stellen beträgt die Temperatur heute noch nur wenige Meter unter der Erdoberfläche über 400 °Celsius.  Hier in der Nähe hat César Manrique das runde Restaurant El Diablo mit einer Kochstelle über einem heißen Erdloch errichtet. Der Priester Curbelo hat die Ausbrüche des 18. Jahrhunderts beschrieben, und wer sich auf den Wanderwegen bewegt, kann für ihn und seine Ängste nur Respekt empfinden.

Und wenn man sich auch wundert, warum die Hitze nicht für Geothermie genutzt wird, bewundert man die Intelligenz des Weinanbaus. In La Geria sieht man, dass die Weinreben in Gruben gepflanzt werden, die in die Vulkanasche gegraben wurden, um die Gruben wurden Halbkreise aus größeren Lavasteinen errichtet. Die Asche speichert sowohl die Nachtfeuchtigkeit als auch den wenigen Niederschlag, die Steine trotzen dem Wind und verhindern die Erosion der Böden.

Georg und seine Freunde werden an dieser Stelle aufgefordert, sich dem lokalen Wein zuzuwenden, damit er nicht von Billigimporten aus dem spanischen Festland abgelöst wird. So können Menschen, die nicht mehr just in time funktionieren wollen, auf Lanzarote durchaus mit der Natur und einem großartigen Künstler harmonieren.  Seinen größten Erfolg erlebte Manrique aufgrund eines Autounfalls leider nicht mehr: Die Ernennung der ersten Insel der Welt zum UNESCO Biosphärenreservat. Das war im Jahre 1993 und hatte Vorbildcharakter.

Bildunterschrift: Lanzarote, Abendstimmung in einer Urbanisation, Copyright: hhh

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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