Die Reise nach Butscha
Von Oradour, über Srebrenica, Aleppo nach Butscha und darüber hinaus, in beide Richtungen, gibt es eine nicht enden wollende Liste von Schädelstätten, wo Menschen an Menschen Massaker begangen haben. Manche liegen lange zurück und schmerzen noch, wie Cervarolo in den nördlichen Bergen des Apennin, wo ich erst vor wenigen Tagen an einer Gedenkfeier teilnehmen durfte. Alleine 7000 solcher Verbrechen listete eine Historikerkommission in Italien während der Jahre 1943 bis 1945 auf. Danach hieß es: Nie wieder, man habe gelernt, jedenfalls nie wieder in Europa. So konnten die Politiker die Bomben auf Krankenhäuser und Wohnungen in Syrien abhaken, nicht unser Ding.
Die passenden Narative
Aber Grosny liegt in Europa, man fiel gerne auf den false-flag Anschlag in Moskau herein, der Putin, wie man heute weiß, den Grund für den Tschetschenien-Krieg lieferte, man akzeptierte den Krieg in Georgien, die Besetzung Transnistriens, den Raub der Ukraine und des Donbass. Was in der Aufzählung vergessen? Man fand für alles das passende Narrativ, bis zu Butscha, 5. April 2022. Butscha, die kleine Stadt nördlich von Kiew, ist heute weltbekannt. Sie steht nicht nur für eine Soldateska, die sich austobte, sie steht für staatlich befohlenen Genozid. Und sie steht für eine Zeitenwende, und hundert Journalisten vor Ort versuchen, dies in Worte zu fassen. Nun stehen alle diejenigen, die jahrelang den Kotau übten und predigten, wasch´ mir den moralischen Pelz aber mach mich wirtschaftlich nicht nass, entblößt da vor einer entsetzten Weltgemeinschaft.
Heuchler, Naive und Günstlinge
Gut, die politischen Heuchler dieser Welt von Gerhard Schröder, über Manuela Schwesig bis zu Matthias Platzeck und die politisch naiven wie Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier, nicht zu reden von den Günstlingen der deutschen Wirtschaft – sie alle versuchen ihren „Irrtum“ zu erklären. Es wäre nicht ihr „Ding“ gewesen, sie wären nicht aufgefordert gewesen zu sagen, „stopp“. Sie wollen nicht vor der Geschichte auf der Seite der Versager dastehen und wollen das Recht behalten, zur Kehrtwende aufzufordern.
Ob das glaubhaft ist? Das mögen später Historiker beurteilen. Aber was ist das „Ding“ von uns Journalisten? Zu beschreiben, was ist, die Tatsachen, die facts, und keine Werbung und keine Propaganda abzusondern. Das ist es sicherlich, unser „Ding“. Doch was heißt das konkret? Sollen wir darauf verzichten, von Sankt Petersburg zu schwärmen und so Touristen anzulocken? Das ist eine Entscheidung, die jeder für sich treffen muss. Die Vorstellung, dass mit den Einnahmen einer Reise nach Russland die Kugeln und Bomben für Butscha finanziert würden, zwingt mich zu einer eindeutigen Antwort.
Was ist mit kuba?
Aber was ist mit anderen Ländern, all jenen, die sich nicht von Putins Krieg zur „Entukrainisierung“ der Ukraine distanzieren? Was ist beispielsweise mit Kuba? Kann man eine Reise auf die karibische Insel noch guten Gewissens in Reise-Stories beschreiben?
Das Auswärtige Amt in Berlin hat folgenden Tipp für Reisende nach Kuba parat: „Vermeiden Sie politische Diskussionen insbesondere zu Fragen der jüngeren kubanischen Vergangenheit oder des Verhältnisses zu den USA. Meiden Sie Demonstrationen und größere Menschenansammlungen. Fotografieren Sie keine Menschenansammlungen, militärischen Anlagen, Polizisten oder sonstige Uniformierte.“
Es kann also keine zwei Antworten auf die Frage geben, ob Kuba, das treu zu Putin und seiner „militärischen Spezialoperation“ steht und die CIA als den Urheber des Massakers in Butscha lügt, ein den Menschenrechten verpflichtetes Land ist. Die eine mögliche Antwort lautet „nein“.
Die UNO ist gescheitert
Dass die Weltgemeinschaft zerfällt, dass die UNO gescheitert ist und die Declaration of Human Rights ein wertloses Stück Papier geworden ist, hat schon Orlando Gutiérrez-Boronat beschrieben. Er ist ein preisgekrönter Autor, Sprecher des Cuban Democratic Directorate, Professor an der Georgetown University. Er hat die Forderung nach einer “Union of Democracies” formuliert, erstmals auf Deutsch in dem Buch “Versprechen der Menschlichkeit – die Forderung nach einer neuen Außenpolitik” formuliert. Dass Joe Biden, der amerikanische Präsident, der diesen Gedanken aufgegriffen hat, sich auf Gutiérrez-Boronat bezieht, kann angenommen werden.
Gutiérrez-Boronat sagte mir, kein Reisejournalist sollte eine Einladung nach Havanna annehmen oder auf eigene Kosten reisen. „Frei recherchieren kann er eh nicht, und er finanziert Versuche der kubanischen Junta, in Lateinamerika und selbst in den USA die Demokratien zu unterhöhlen und zu stürzen.“
Das Ideal, vom Fahrrad geschossen
Nun sagen manche, man müsse im Gegenteil den Kontakt zu den Einheimischen suchen, ihnen wirtschaftlich helfen. Einen Wandel durch Kontakt und Handel versuchen. Michel Houellebecq in „Plattform“ und Pedro Juan Gutiérrez in „Schmutzige Havanna Trilogie“ haben ihre eigene Sicht publiziert, wie man den Kubaner*innen „helfen“ könne.
Aber ist es das in der Welt nach Butscha? Das Ideal eines Wandels durch Handel oder jedenfalls durch Annäherung ist tot, vom Fahrrad geschossen. Im Umgang mit Putin war es wohl ohnehin ein Mythos.
Kyrill und LGBT
Patriarch Kyrill I, Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche und der Definition nach ein Gottesmann hat zum Krieg des „Guten gegen das Böse“ aufgerufen, und das „Böse“ sieht er überall dort, wo LGBT-Umzüge stattfinden. In seiner Schwulenfeindlichkeit ist Putin sein treuester Jünger.
Eine bipolare Welt
Wenn man endlich abfängt, die Taten zu sehen, sie in den Kontext zu den gemachten Aussagen zu setzen, etwa der, dass es „in Wirklichkeit“ keine Ukraine gäbe, sie das Machwerk des Westens und von Faschisten sei, dann ergeben sich die Konsequenzen: Man muss sich stellen, seinen Platz beziehen in der plötzlich bipolaren Welt. Dort Kyrill I und Putin und ihre Gefolgsleute, hier ich. Und auf meiner Seite die Menschenrechte und das Existenz- und Selbstbestimmungsrecht der Staaten, aller Staaten.
Die Menschenrechte bilden auch für den Tourismus die Grundlage. Vor mehr als 70 Jahren wurden 1948 sie in einer Allgemeinen Erklärung als grundlegend für alle Menschen beschrieben. In Butscha wurden sie verbrannt. Neues muss, Neues wird kommen, jedenfalls für die Welt der Demokratien.
Tourism Watch fordert
Tourism Watch fordert seit Jahren, dass sich „Reisende nicht zu Komplizen von Menschenrechtsverletzungen machen. Menschenrechte sind Bürgerrechte, aber auch Bürgerpflichten.“ Ja, aber das fängt schon bei der Auswahl des Reiseziels an, und Reisejournalisten sollten ihre Aufmerksamkeit auf Reiseziele richten, die in demokratischen und freien Ländern zu finden sind.
Die gibt es, auch wenn Amnesty International meint, fast alle Staaten der Welt machten sich „Verletzungen der Menschenrechte zu schulde“. Ja, aber es gibt eine Antwort auf die Frage nach der Suche. Zunächst gibt es Menschenrechtsverletzungen mit lokalen Ursachen. Ausgrenzung, Ausbeutung, Vertreibung der Bewohner, Versklavung und Missbrauch, vor allem der Frauen und Kinder. Keiner wird überrascht sein, dass in aller Wahrscheinlichkeit multiple Verletzungen anzutreffen sind. Und dann gibt es Butscha. Der Regierungschef, der die Massaker dort nicht unzweideutig verurteilt und den Schuldigen nicht nennt. Der wird mich nicht mehr als Gast und Besucher seines Landes sehen. Das verbietet mir mein Journalisten-Ethos.