Wie wohl jeder Junge träumte ich als Kind davon, einmal Lokführer zu werden. Ich war unlängst auf der Rhätischen Bahn unterwegs. Während einer Fahrt mit dem Bernina-Express der Rhätischen Bahn erlebte ich so ziemlich das Größte, was ein Hobbyeisenbahnerherz erfahren kann. Die vom Bernina Express befahrenen Strecken Albulabahn und Berninabahn sind Teil des UNESCO-Welterbes. Gleichbedeutend mit Kölner Dom, Abu Simbel in Ägypten, Schloss Sanssouci in Potsdam oder der Völklinger Hütte im Saarland. Weltweit stehen nur drei Eisenbahnen auf der UNESCO Welterbeliste: die Semmering Bahn in Österreich, die Gebirgsbahnen Darjeeling Himalayan Railways in Indien sowie die „Rhätische Bahn in der Landschaft Albula/Bernina“.
Mit Bernhard Willen im Cockpit
Kurz darauf also bin ich im Führerstand des modernen Triebwagens und wurde von Lokführer Bernhard Willen herzlich begrüßt. Der 50-Jährige ist seit 20 Jahren bei der Rhätischen Bahn und nimmt mich mit auf die Reise von den italienischen Palmen bis hinauf nach Pontresina.Viel Zeit zum Kennenlernen haben wir nicht, denn es geht gleich los und der Lokführer muss aufmerksam sein, es gilt Signale zu beachten und die Strecke im Blick zu behalten. Das eine oder andere Mal fährt der Zug wie eine Straßenbahn durch die Orte.
Ich erfahre während der eineinhalb Stunden eine Menge und bin beeindruckt. Die Tour in Zahlen: 55 Tunnel, 196 Brücken und Steigungen von bis zu 70 Promille meistert der Triebwagen mit den angehängten zehn Wagen mit Leichtigkeit. Auf 2.253 Meter über Null thront Ospicio Bernina. Die Strecke von Tirano über Valposchiavo nach Thusis gehört zum UNESCO Welterbe. Die Bernina-Bahn gilt als eine der steilsten Adhäsionsbahnen der Welt. Sie kommt ohne Zahnrad den Berg hinauf. Mit Blick auf das mächtige Bernina-Massiv kurvt der Zug von 2253 Meter Höhe wieder hinab ins Puschlav und über den berühmten Kreisviadukt geht es von Brusio bis nach Tirano.
Von Tirano zur Alp Grüm
Erster Höhepunkt der Fahrt ist die Ausfahrt vom Doppelbahnhof Tirano mit geschätzten 15 Stundenkilometern. Wie eine Straßenbahn fahren wir durch die Stadt über den Platz vor der Wallfahrtskirche Madonna di Tirano. Nachdem wir Tirano verlassen haben, beginnt unsere Reise durch eine beeindruckende Landschaft.
Vom Führerstand aus hat man einen guten Blick nach links und rechts und kommt aus dem Staunen nicht heraus, wenn sich immer wieder neue Blicke auf Berge oder Schluchten auftun. Spektakuläre Viadukte und Kehrtunnel wechseln sich ab mit den wunderschön glitzernden Gletschern.
In den kurzen Pausen, wo wir auf einen Gegenzug der Rhätischen Bahn warten, erzählt Lokführer Bernhard, den ich Berni nennen darf, über die Besonderheiten am Rande der Strecke. Etwa, dass bis vor einigen Jahren kurz hinter Tirano noch ein Grenztor die schweizerische und italienische Grenze markierte. Und das dieses Tor nach dem Durchfahren des letzten Zuges geschlossen wurde. Die Schweiz gehört bekanntlich nicht zur EU. Natürlich frage ich, ob es auch einen sogenannten Totmannknopf gibt. In der Tat: wenn der Treibfahrzeugführer nichts bewegt, dann ertönt alle 800 Meter ein Signal und der Lokführer muss den Kopf betätigen. Sonst stoppt der Zug. Bestätigt werden muss auch das doppelte gelbe Licht bei der Einfahrt in einen Bahnhof. Es signalisiert, dass hier ein Gegenzug abzuwarten ist. Das kommt häufiger vor, schließlich ist die Strecke eingleisig.
Ich fühle mich im siebten Himmel. Während die hinter mir in den Waggons sitzenden Gäste die vorbeiziehende Landschaft durch die sauberen Panoramascheiben bestaunen und den fachkundigen und originellen Erläuterungen von Zugführer Martin lauschen, erfahre ich hier vorn aus 1. Hand Infos zu den Besonderheiten der Strecke. Etwa, warum diese oder jene Brücke gerade dort gebaut wurde oder was es mit der legendären Dampfschneeschleuder auf sich hat.
Bernhard Willen, der selbst ein passionierter Eisenbahnfan ist (es gibt kaum eine Eisenbahn in Europa, die er nicht kennt) gibt immer wieder Tipps, damit ich im rechten Augenblick auf den Auslöser meiner Kamera drücke. Etwa, wenn Marke von 2.253 Meter Höhe über dem Meer erreicht wird. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Dabei sehe ich auch die Bauarbeiten an den Tunneln und Brücken, die notwendig sind, um die Schmalspurbahn intakt zu halten. Da der Abschnitt bis ins Puschlav besonders stark von Schneeverwehungen betroffen ist, wurden ab der südlichen Staumauer des Lago Bianco zahlreiche Kunstbauten eingerichtet. Bernhard Willen weist auf die 140 Meter lange Scala-Galerie hin, ebenso auf den fast 200 Meter langen Scala-Tunnel. Weitere Bauwerke, die vor Lawinen schützen sollen, sind die sogenannte Sassal Mason-Galerie und der 54 Meter lange Drago-Tunnel.
Bernina als UNESCO-Botschafter
Berni, wie ihn seine Freunde auch nennen, ist stolz, dass die Bernina und Albula Linie der Rhätischen Bahn seit 10 Jahren auf der Liste des UNESCO-Welterbes stehen. Für mich ist der Lokführer, dessen Vater ein bekannter Schweizer Eisenbahnfotograf war, in diesen Stunden wie ein UNESCO-Botschafter. Denn diese technischen Höchstleistungen, die einst von Menschen erschaffen wurden, leben auch heute nur vom Engagement begeisterter Menschen. Weiteres Highlight unserer Fahrt ist das berühmteste Bauwerk der Bahn, das Kreisviadukt von Brusio. Das gerade Gleisstück davor wurde im Winter 2008/2009 in 120 Tagen um 15 Meter verschoben, weil der Hang daneben ins Rutschen geraten war. Nach dem Neubaustück kommt die offene 360-Grad-Kehre, die meist von Fotografen umlagert ist. Die Strecke über Albula und Bernina gilt wegen der Bautechnik und Linienführung bis heute als eine der spektakulärsten Pionierleistungen der Welt. Ein Grund: Die Züge kriechen über dem türkisschillernden Lago Bianco so hoch wie nirgendwo sonst in Europa.
Es sind diese atemberaubenden Bilder und kundigen Erklärungen, die eine Reise mit dem Bernina Express unvergesslich machen. Viel zu schnell vergeht die Zeit. Links folgt der Gletschergarten, dann der Morteratsch-Gletscher und schon kommt die Diavolezza in den Blick.
Ankunft in Pontresina
Bernhard Willen erklärt hier die Besonderheit des Bahnhofs von Pontresina. Hier treffen die beiden unterschiedlichen Stromsysteme der Rhätischen Bahn zusammen. Die Züge, die von Samedan, also aus dem Unterengadin oder über den Albula-Pass kommen, fahren mit 11.000 Volt Wechselstrom und enden auf Gleis 1 bis 3. Der Bernina-Bahn stehen die übrigen Gleise zur Verfügung. Das war vor Jahren noch wichtig, die heutigen für den Bernina Express zum einsatzkommenden dreiteiligen Gelenktriebwagen der Firma Stadler können in beiden Stromsystemen der Rhätischen Bahn fahren und machen den sonst notwendigen Lokwechsel für den Bernina-Express von Chur oder Davos nach Tirano überflüssig.
Ich verabschiede mich von einem erfahrenen und begeisterten Lokführer. Bevor ich es vergesse. Bernd Willen geht auch gern während seines kurzen Aufenthaltes in Tirano in das am Bahnhofsvorplatz befindliche Eiscafe „Lollipopp“. Welch ein Zufall, drei Stunden zuvor hätten wir uns dort auf ein Eis treffen können.
Die Reise wurde unterstützt von der Rhätischen Bahn. Vielen Dank!
Die Dampfschneeschleuder der Rhätischen Bahn, Foto: Rhätische Bahn