[vc_row][vc_column][vc_column_text]„Die Abwesenheit von Schweiß.“ Er war gebeten worden, was seiner Meinung nach die besonderen Merkmale eines Wintertourismus im Salento sein könnten, und das war ihm spontan eingefallen. Im Winter schwitzt man nicht. Er war Teil einer Journalistentruppe, die zu einem „Educational Tour“ an die Südspitze Apuliens in Süditalien gebracht worden war. Genau genommen nach Carpignano Salentino, denn diese Gemeinde hatte die Ausschreibung des regionalen Dezernats für die Tourismusindustrie der Region Puglia im Bereich des regionalen Vollstreckungsprogramms FESR-FSE 2014-20120, Asse VI, Azione 6.8 gewonnen. Er hatte sich über den Riesenaufwand gewundert, aber da er bürokratische Abstrusitäten im schönsten Land der Welt gewohnt war, hatte ihn das nicht weiter gestört. Eher schon, dass die touristischen Highlights Apuliens nicht dabei waren. Kein Bari, kein Brindisi, kein Castel del Monte, kein Gallipoli, kein Taranto, selbst das nur 10 Kilometer von Carpignano entfernte Otranto war nicht dabei, weil es die Kultur-Assessorin Lucia Antonazzo nicht wollte. Dafür aber wurde die Weinfabrik San Marzano besucht, noch hinter Manduria, zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück, eine Kellerei, mit deren Hilfe der Primitivo und der Negro Amaro über die Welt vergossen wird. 30 Prozent, so der Generaldirektor von San Marzano, des süffigen bis schweren Rotweins gehen alleine nach Deutschland.
Da der Journalist schon in diversen Cantinas auf „Erziehungstour“ war, traf es sich gut, dass etwas Zeit blieb, das im Untergrund versteckte Santuario rupeste der Madonna delle Grazie aus dem 12. Jahrhundert zu besuchen. Von diesen Heiligtümern im Felsen gibt es eine Vielzahl, auch in Carpignano selbst, und alle sind einen Besuch wert, weil sie spannende Geschichten erzählen. Die Madonna von San Marziano führt uns zu der albanischen Gemeinschaft, die einst mit Georg Kastriota, genannt Skanderbeg, gegen die Türken kämpfte, die auch diesen Landstrich heimsuchten. Hier wird noch L’arbresh, Alt-Albanisch, von einigen gesprochen, so wie sich auch im Salento noch Sprachinseln des Griko, eines mittelalterlichen Griechisch, erhalten haben. Immer blickte man hier mehr nach Südosten als gen Norden, wie wir noch lernen sollten.
Eine andere Besonderheit, die er in der Frageliste vermerkte, war, dass es im Winter „mehr Platz“ gebe. Er hatte die Sommerbilder und die Kommentare gelesen, die von Warteschlangen und überfüllten Stränden erzählten. Aber jetzt war eigentlich niemand da, im Salento nicht, in Carpignano schon gar nicht, und des Nachts schien selbst der Tod sich davon gemacht zu haben, so ruhig war es hier. Auf dem Dach der Unterkunft einer Teils der Journalistengruppe, eines B&B, das sich Arcona nannte und von Luigi und seinen beiden Söhnen mit großer Aufmerksamkeit und Fürsorge geführt wurde, gewann der Journalist einen Überblick. In der Ferne gen Osten sah er einen Strich der Adria, dahinter die Berge Albaniens. Das Salento ist flach, wenn man es sich als von den Meeren umfasste Ebene in Daumenform, bestanden mit Olivenbäumen und Weinreben vorstellt, unterbrochen von einigen Ansiedlungen, die gegen ihre Auszehrung kämpfen, hat man ein Bild.
Wer nicht Fischer oder Olivenbauer sein kann, oder im jahreszeitlichen Wechsel beides, der ist geneigt, sein Heil in der Fremde zu suchen. Nur einmal verzeichnete diese Gegend einen Zuwachs an Menschen, das war im Faschismus. In den 50er Jahren gab es eine Landreform, nicht bestelltes Land wurde den Großgrundbesitzern weggenommen und verteilt. Heute sind Kooperativen die gängigen Wirtschaftsformen bei Wein und Öl. So versorgt man Europa. Die Olive ist keine Pflanze, sie ist ein Vertrag zwischen Mensch und Strauch. Hält der Mensch den Vertrag, stirbt die Olive nicht.
Vor seinen Füßen sah er die Kuppel der Chiesa Matrice, das Kirchenschiff der Immacolata, das Denkmal für die Kriegsopfer, das auch Tote aus dem Jahre 1885 verzeichnete, den Glockenturm, dessen Mechanik von Hand zu bedienen war. All das hatte er aus der Nähe gesehen und kannte er. Auch das neueröffnete Museum Musarca über die Bronzezeit, die ehemalige Synagoge, die frühzeitliche Ölmühle und die byzantinische Krypta der Heiligen Cristina aus dem 10. Jahrhundert. All diese Beispiele und Denkmale einer herausragenden Kultur konnte er, wenn nicht sehen, so doch in diesem kleinen Städtchen verorten. Vor den Toren wusste er auch zahlreiche Hinweise auf die Vorgeschichte, Dolmen und Menhire, dann die Masserien, alleinstehende Höfe, und die Agriturismi, wo andere Mitglieder seiner Gruppe untergebracht waren. Alle Gehöfte hatten ihre eigenen Produkte, ob auf Öl-, Aloe Vera- oder Weinbasis. Von der Xylella fastidiosa, dem für Olivenbäume tödlichen Feuerbakterium, keine Rede und keine Spur.
Auf die Tische kam nichts aus dem Tiefkühl- oder Industrieregal. In der Kooperative San Giorgio nicht, im Lu Schiau nicht, in der Masseria Cinque Santi nicht. Die Produkte des Salento sind einfach wie die lukanischen, aber stark an Aromen, wie Salbei, Rosmarin, Thymian, Majoran, Oregano und Pfefferminz. Gerne beginnt man mit frittierten und überbackenen Kleinigkeiten, Fenchelsalat, Caponata , aber ohne die in Palermo üblichen Rosinen, dann Ciciri und Tria, hausgemachte Nudeln, dann den Scapece, einen gebrateten Fisch, in Essigbrot mariniert und mit einer Prise Safran serviert. Zum Nachtisch die Cecamariti, Süßigkeiten mit Zimt und Mandeln.
An alles dachte er, als er auf dem Dach stand, und nahm sich vor, in die Befragung noch einzufügen, dass im Winter die Preise deutlich reduziert wären. Ein Espresso kostete nur einen Euro.
Am Wichtigsten vielleicht waren dem Journalisten die Gespräche und die Informationen, die er aufsaugen konnte wie Löschpapier die Tinte. Der Historiker und Stadtführer Francesco Manni lieferte vieles über die Menschen, die kamen, gingen und blieben. Dem Journalisten, der einige Episoden der europäischen Geschichte zu seinen Lieblingsfeldern zählt, erfuhr die Bestätigung, dass das Salento mit allen Teilen des Kontinents eine gemeinsame Geschichte teilt. Hierher kam das Öl, das olio lampante, das Londons Straßen erhellte. Er erfuhr, dass die Gegenreformation nicht nur Luthers Anhänger zum Ziel hatte, sondern zugleich auch den im Salento verbliebenen griechischen Ritus, obwohl der sich längst von Konstantinopel gelöst hatte. „Viele reden noch von griechischer Orthodoxie, aber das ist ein Fehler. Man blickte längst nach Rom,“ sagte der Historiker. Auffallend die vielen „Wunder“ in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, die vom Klerus alle der Jungfrau Maria zugeschrieben wurden, und die dazu führten, dass die griechischen Gemeinden hundert Jahre später fast alle verschwunden waren. Und vor der Synagoge, die heute leider ein Wohnhaus ist, erzählte Manni, dass sich viele Juden vor der Überfahrt nach Palästina im bereits befreiten Salento trafen. 2003 kam eine Gruppe aus Israel zu Besuch, um an diese Zeit zu erinnern.
In die Liste, welche Empfehlungen die angereisten Journalisten für den Wintertourismus geben könnten, schrieb er noch, dass man mit den Pfunden, die man so reichlich hat, besser umgehen und bessern wuchern müsste.
Das betrifft vor allem Roca Vecchia, ein Zentrum europäischer Frühgeschichte im nahen Meledugno an der Küste, das getrost in eine Reihe mit Troia, Knossos und Phaistos zu stellen ist, zumal es zwischen den Orten Zusammenhänge gibt. Der Hallenser Professor Harald Meller hat zu Roca eine Ausstellung gemacht, ein Buch („Krieg“) geschrieben, es gibt Kooperationen der Universität Salento mit Athen, Cambridge, Lüttich. Aber vor Ort sieht es aus, als wäre gerade ein Grundstück gesichert und die ersten Grabungen getätigt worden. Dabei gibt es Ergebnisse, die den Atem stocken lassen, wir die Grotta della Poesia, die alleine deswegen Leute anzieht, weil sie als „schönste Naturbadewanne der Welt“ gilt, oder wie die Erzählungen des Archäologen Niko Scarano über den Kampf der Minoer gegen die Mykener, um diese Gegner dürfte es sich – wie in Kreta – gehandelt haben, und den Tod der Belagerten.
Was sollte der Journalist noch in den Fragebogen zum Wintertourismus im Salento schreiben? Dass man wenigstens im Winter gerade den Leuten dieses wunderbare Land lassen sollte, die nicht nur die Highlights abklappern? In Melpignano, auch ein Städtchen in der Nähe, wo jedes Jahr die Notte della Taranta stattfindet, die Nacht des heimischen Tanzes, hat man im Fürstenpalast, der gerade restauriert wird, Fresken, ein Gefängnis, einen verborgenen Stall und Lagerräume gefunden, nicht so alt wie Roca Vecchia aber auch wunderschön. Eigentlich hatte er sich ja geärgert, dass Taranto, Gallipoli und die anderen Schwergewichte in der Educational-Tour nicht berücksichtigt worden waren, aber im Nachhinein fand er es wunderbar, Wesentlichem näher zu kommen.
Information
www.salento-italia.com
www.viaggiareinpuglia.it[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]