Eisleben, nah´ dem Leben, nah´ dem Sterben

Der Anbau zum Geburtshaus

 

Als wäre die Zeit stehen geblieben: Der Anbau zum Geburtshaus

Als wäre die Zeit stehen geblieben

Wenn die vielen Koreaner nicht wären, dann wäre Eisleben ein beschauliches Städtchen, auf dessen Markt zu Füßen des Reformators frisches Obst und Gemüse aus der Region und billige Massentextilien aus den chinesischen Produktionsstätten in Italien angeboten würden. Der Strom der Touristen, sofern nicht koreanisch, fließt an der kleinen Stadt vorbei, in der Martin Luther geboren wurde – „von daher bin ich“ – und starb. Man wundert sich, warum es so viel leere und verfallende Häuser gibt, bestaunt die Berge aus Abraum und Schlacke. Und man beneidet fast die Koreaner, die von so weit hergekommen sind, und das, was es von dem größten Sohn der Stadt zu bestaunen gibt, wie Reliquien verehren und eine Frömmigkeit leben, die uns Journalisten, Teilnehmer der 1. Pressesternfahrt nach „Mitteldeutschland ins Herz der Reformation“, fremd und fast peinlich ist. Dass Korea ein wichtiges Land der lutheranischen Missionierung ist, wussten wir schon aus der nationalen Sonderausstellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Aber wie liebevoll und fröhlich die Gäste aus dem fernen asiatischen Land das Geburtshaus in ihre Selfies aufnehmen, das überrascht uns.

Als würde gleich Luther um die Ecke kommen

Dann nimmt uns Ute Klopfleisch, die Kulturdezernentin Eislebens, in ihre Obhut und auf eine erstaunliche Reise: „Die Luthergedenkstätten in der Lutherstadt Eisleben wurden im Dezember 1996 als Kulturerbe der Menschheit von der UNESCO anerkannt. Sie repräsentieren einen bedeutsamen Abschnitt in der Geschichte und haben als authentische Schauplätze der Reformation universelle Bedeutung. Martin Luther wurde am 10. November 1483 in der Lutherstadt Eisleben geboren.“ Das „Authentisch“ bittet sie nicht wörtlich zu nehmen, sondern für „die bürgerliche Lebensweise zur Zeit der Reformation.“ Denn das Geburtshaus ist 1689 wie die ganze Stadt abgebrannt. Hier brannte es, weil man gerne die Flamme im Herd am Leben erhielt, oft: 1498, 1559, 1601 und eben 1689, als es Luthers Geburtshaus traf. In dem Chronicon Islebiense heißt es, „das Haus, darinnen der selige Mann Dr. Lutherus geboren,“ sei „auff den Grund abgebrannt.“ Ein Zeuge widersprach und zeigte auf eine Tafel. Der „unverbrannte Luther“, eine Holztafel, die man indes zuvor abgehängt hatte. So konnten andere sagen, hätte man sie nicht entfernt, wäre dem Haus nichts passiert. So ging der Umgang mit den Memorabilien durch die Jahrhunderte, bis in die Neuzeit. Die Ausgräber haben inzwischen die Geschichte geklärt, das „Geburtshaus“ wurde erst 1693 gebaut. Aber was soll`s? Mit Sicherheit kennt man nicht einmal Luther Geburtsjahr. Und dass sein Vater, Hans Luder, „ein armer Häuer“ war und seine Mutter „all ihr Holz auf dem Rücken getragen hat“, ist eine vom Sohn in die Welt gesetzte Mär. Sein Vater kam aus Möhra in Thüringen, wo der Großvater einen Hof hatte, und ihm bald eine Kupfermühle gehörte. In Mansfeld ist Hans Luder Hüttenmeister und hatte das Geld, sich in Eisleben als Bergbauunternehmer zu engagieren.
Man kann das alles nachlesen, und die Geschichte passt zum Ambiente, wenn fromme Dichtung und Wahrheit verschwimmen. Das spirituelle Gefühl zählt. Christi Kreuz erreicht, wenn man seine Reliquiensplitter zusammenfügt, die Ausmaße eines Waldes, und nicht nur die Koreaner sind von dem Zauber Eislebens ergriffen. So nahe wie hier fühlt man sich dem Reformator nirgendwo.
Und da natürlich auch eine Verkündigung vonnöten ist, gibt es den Schwan, von dem Jan Hus sprach, der hundert Jahre nach ihm kommen würde, und den man anders als ihn, die Gans, (Husa heißt auf Tschechisch Gans) nicht verbrennen könne. Der Schwan, den man als braune Figur bewundern kann, ist natürlich Martin Luther, der im Bett starb. Im Geburtsort Eisleben, weil er dort einen Streit schlichten wollte, was ihm noch pre mortem gelang.
Aber auch das Sterbehaus war ein anderes. Man hatte sich einfach geirrt. Das Haus am Andreaskirchplatz 7, ein zweigeschossiges Gebäude mit einem steilen Satteldach, galt lange Zeit als der Ort, in dem Martin Luther am 18. Februar 1546 die Augen auf ewig schloss. Der Chronist Eusebius Francke verwechselte im Jahre 1726 die Häuser von Barthel Drachstedt und dessen Vater Dr. Philipp Drachstedt. Dies hatte zur Folge, dass 1862 die Stadt Eisleben das „falsche“ Haus erwarb. 1894 wurde hier eine Luthergedenkstätte eingerichtet. Heute weiß man, dass Luther im Haus am Markt 56 verstarb, das damals vom Stadtschreiber Johann Albrecht bewohnt wurde. Heute befindet sich das „Hotel Graf Mansfeld“ in dem Gebäude. „Luthers letzter Weg“ lautet der Titel der neuen Ausstellung im Sterbehaus. Sie erzählt von dieser letzten Reise des Reformators nach Eisleben und von seinen letzten Tagen dort. Die Ausstellung richtet den Blick aber auch auf Luthers Auseinandersetzung mit Sterben und Tod in seiner Familie und im Freundeskreis: Luther als Betroffener und Trauernder, Luther als Tröster und Seelsorger. Den Höhepunkt des Ausstellungsrundgangs bilden die so genannten „Sterberäume“. Alle Objekte und Möbel wurden restauriert. Im Sterbezimmer ist zudem das Bahrtuch ausgestellt, das 1546 Luthers Sarg bedeckte. So unmittelbar will man es manchmal gar nicht haben.
Die beiden Häuser sind Denkmale im besten Sinn des Wortes. Schlafraum, Wohnzimmer, Küche sind sorgfältig nachgebildet, und wenn Ute Klopfleisch erzählt, dass Luthers Vater ein Bergmann war, und dass heute der bescheidene Wohlstand des Städtchens, wenn man die sozialen Verhältnisse der Lutherstadt Eisleben so nennen will, von den guten Renten herrührt, die ehemaligen Bergknappen gezahlt werden, dann erschließt das einen neuen Zugang. Alles ist von Vergänglichkeit gezeichnet. Und das führt zu Martin Luther und seiner Zeit intensiver als alle Memorabilien. Man muss nur durch die Stadt wandern, man trifft außer bei den Gedenkstätten sowieso niemanden, und es würde nicht wundern, käme der Reformator um die Ecke.
Dabei bemüht sich Luthers Geburtsstadt um ein vielfältiges Kulturangebot mit Landesbühne und Museen und den Veranstaltungen der Vereine. Ute Klopfleisch würde zudem gerne eine alte, leer stehende Schule wiederbeleben, es hängt am Geld.
Das wichtigste Museum ist das sanierte und um Ausstellungsräume erweiterte Geburtshaus, ein geschickter Anbau, der dessen Substanz nicht angegriffen hat. Auf 700 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigt die Ausstellung „Von daher bin ich – Martin Luther und Eisleben“ die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Luthers Kindheit und Jugend prägten. Zu dem Namen Luther gelangte der Reformator über den Umweg „Eleutheros“, der Freie. Dargestellt im Museum wird auch die Spiritualität des Spätmittelalters, und wieder hat man das Gefühl, berührt zu werden und an Verständnis zu gewinnen. Hier werden rund 250 Exponate aus der Zeit zwischen dem 13. und dem 19. Jahrhundert gezeigt.
Unweit, in der St.-Petri-Pauli-Kirche, Luthers Taufkirche, dominiert ein Ganzkörpertaufbecken. Zu taufende Koreaner sahen wir keine. Die Erinnerung an Luthers Taufe bewahrt der Taufstein. Eine lateinische Inschrift im Kesselkranz besagt, dass “dies die Reste des Taufsteins sind, in dem der seelige Martin Luther im Jahr 1483 getauft wurde”.
Am 10. November 1483 wurde Martin Luther (vermutlich) geboren und am Tag darauf in der St.-Petri-Pauli-Kirche auf den Namen des Tagesheiligen getauft. Über diesen schließt man aufs Geburtsdatum. Mit der Taufe hatte man es eilig, die Kindessterblichkeit war hoch. Seit 2012 ist die St. Petri-Pauli-Kirche wieder eröffnet. Hier entstand “Das Zentrum Taufe in Lutherstadt Eisleben”.
Oberhalb des Marktes führt uns Ute Klopfleisch in die St.-Andreas-Kirche, die Pfarrkirche der Eisleber Altstadt. Für die evangelischen Christen aus aller Welt ist die Andreaskirche von großer Bedeutung. In ihr hielt Martin Luther in der Zeit vom 31. Januar bis zum 15. Februar 1546 seine vier letzten Predigten und führte zwei Pfarrer in ihr Amt ein. Am 19. Februar erfolgte hier die Aufbahrung des toten Reformators, ehe der Leichnam über Halle in die Schlosskirche nach Wittenberg überführt wurde. Koreaner trafen wir hier nicht. Vielleicht war ihre Zeit zu knapp bemessen oder der Ort ist für Selfies zu traurig. Jedenfalls sollten wir wiederkommen, meint die Kulturdezernentin. Zu Luthers Geburtstag findet vom 10. bis 12. November das 5. Luther-Treffen statt. Man muss auch nicht Luther oder Luder heißen.

Informationen:
www.eisleben.eu
www.luthers-geburtstag.de

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Hans-Herbert Holzamer

Autor Kurzvorstellung:

Freier Journalist und Autor

Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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