Wanderungen in Ostgrönland
Matthias steht aufrecht im starken Fahrtwind. Er steuert das Motorboot unbeirrt im sicheren Abstand zwischen Eisbergen durch den Fjord zur riesigen Vorderfront des Knud Rassmussen Gletschers. Kälte scheint seiner gebräunten Gesichtshaut nichts anzuhaben. Die Passagiere sitzen unten im Boot teilweise durch eine Kunststoffscheibe abgeschirmt, aber sie ducken sich vor dem eisigen Wind. Matthias ist in Tasiilaq eine Legende. Es ist ortsbekannt, wie er nur knapp dem Tod entging. Als er eines Tages noch früh im Jahr mit seinem Holzboot zur Robbenjagd unterwegs war, geriet er dermaßen zwischen sich schließende Eisschollen, dass sein Gefährt unter ihm faktisch zerrieben wurde. Er rettete sich knapp mitsamt seiner Jagdausrüstung auf eine Scholle von der es wochenlang kein Entkommen gab. Er lebte vom rohen Fleisch gefangener Fische oder erlegter Seehunde. Wie Matthias das überlebte gilt bislang als Wunder. Jedenfalls konnte er sich irgendwie ans Fjordufer retten, lief mehrere Tage lang nach Hause ins Dorf und rief ins Haus: „Frau, da bin ich wieder“, als ob er zurück wäre vom Bäcker.
Bunte, meist rote Holzhäuser, verzieren karg bewachsene, felsige Hügel oberhalb des dunkelblauen Meerwassers, in dem blendend weiße Eisberge treiben. Tasiilaq liegt an Grönlands Ostküste, nur knapp unterhalb des Polarkreises auf der Insel Ammassalik am Rand des Inlandeises. Es ist mit dem internationalen Flughafen Kulusuk durch Bootstransfer oder 10 Minuten Hubschrauberflug verbunden. Dort landen regelmäßig Propellermaschinen aus Reykjavik auf einer Schotterpiste. Bücherei, Supermarkt, Schule, Kirche, Friedhof, Krankenstation und einige Quartiere für Touristen bieten etwa 2000 Einwohnern annehmbare Lebensbedingungen in einer der größeren Siedlungen entlang der Küste. Ganz Grönland hat nur 55.000 Einwohner, die sich hauptsächlich auf die Südwestküste konzentrieren, wo das Klima erträglicher ist. Die größte Insel der Welt ist zu über 80 % von Inlandeis bedeckt, das seine kalbenden Gletscherzungen hinab ins Polarmeer schickt und dieses mit treibenden Eisbergen versorgt. Bis über 3000 Meter dick ist die Eismasse, wobei der Klimawandel auch hier für ein langsames aber stetiges Abschmelzen sorgt.
Matthias wohnt nicht am Wasser, sondern etwas oberhalb landeinwärts. Da ist es wärmer! Seine Boote hat er im Hafen. Neben der eigenen Jagdtätigkeit arbeitet er während der Sommermonate für das Unternehmen „The Red House“. Dieses wird von Robert Peroni geführt, einem 1944 in Südtirol geborenen Extrembergsteiger und Abenteurer, der das grönländische Inlandeis mehrfach zu Fuß durchquerte. Etwa 40 Tage dauert die Expedition, ständig von gleißendem Weiß umgeben, extremen Winden ausgesetzt, vorbei an Gletscherspalten bei Temperaturen bis unter – 40 Grad, der weißen Horizontlinie entgegen mit übermenschlicher Disziplin und Kondition.
Peroni ist beliebter Chef des Roten Hauses, beschäftigt er doch fast ausschließlich einheimisches Personal. Nicht nur Unterkünfte werden vermietet, er rüstet auch Expeditionen und Exkursionen per Schlittenhund, Schneeschuhen oder Boot aus. Inuit wie Matthias sind dann „Guides“. Neben dem roten Hause bietet das Hotel Angmagsalik oberhalb des Ortes Unterkünfte. Außerdem kann man im Ort auch bei Einheimischen wohnen. Sicherlich eine besondere Erfahrung.
Es sind Ferien, die Schule ist geschlossen und es gibt nichts zu tun, auch für viele Erwachsene nicht. Tagsüber sind Jugendliche mit Fahrrädern, motorgetriebenen ATVs oder zu Fuß unterwegs. Kinder spielen auf der Straße. Erwachsene sitzen oft rauchend vor ihren kleinen bunten Häusern, oder sie gehen spazieren. Einige findet man im Supermarkt wo Neuigkeiten ausgetauscht werden. Über 90 Prozent der Ortsbevölkerung sind Inuit – das oft gebrauchte Wort Eskimo kommt aus der Sprache der Algonquin-Indianer Kanadas und bedeutet Rohfleischesser. Inuit dagegen ist Synonym für „das Volk“. Es sieht hier aufgeräumter aus als in Reservaten Nordamerikas. Beschäftigung bieten die wenigen örtlichen Organisationen und natürlich Jagd und Fischfang samt Verarbeitung.
Wanderungen durch echte Wildnis
Tasiilaq ist ein günstiger Ausgangspunkt für Exkursionen ins Landesinnere. Von hier aus führen Trekkingrouten zu benachbarten Gipfeln. Nachdem während der Sommermonate bis auf starke Winde meist sonniges Wetter herrscht, lassen sich mit entsprechender Ausrüstung aussichtsreiche Touren unternehmen. Moskitonetze sind dabei ebenso von Nutzen wie warme Zusatzbekleidung. Markierungen sind spärlich oder gar nicht vorhanden. Somit ist es besser, in einer Gruppe mit Bergführer unterwegs zu sein. In der Umgebung von Tasiilaq ist im Sommer kaum mit einer Eisbärbegegnung zu rechnen, da es hier für die bis 700 kg schweren Raubtiere keine natürliche Nahrung gibt, denn sie jagen in erster Linie Seehunde. Inuit dürfen jährlich eine gewisse Quote von ihnen erlegen. Das Fleisch muss dann lange gekocht werden, da es tranig schmeckt. Bewohner des Altersheimes im Ort essen es traditionsgemäß gerne.
Auf den zwischen 500 und 900 Meter hohen Gipfeln stürmt es. An Schattenseiten finden sich noch ausgedehnte Schneefelder, ansonsten führt der Anstieg über Geröllhalden. Von hier oben reicht der Blick über den riesigen Sermilik Fjord bis auf das Inlandeis. Dessen Fläche entspricht der fünffachen Größe Deutschlands. Die Temperaturkontraste sind am Berg enorm. An geschützten Stellen blühen jedoch Gletscherhahnenfuß, sowie die grönländische Nationalblume, das arktische Weidenröschen und blaue Glockenblumen. Der Abstieg führt an kleinen Seen und einem Wasserfall vorbei durch das Tal der Blumen und endet am Friedhof vor dem Ortseingang. Weiße Holzkreuze und unzählige Plastikblumen zieren die Gräber. Im Winter werden Tote in einem Häuschen tiefgefroren zwischengelagert um sie dann nach Auftauen des Bodens im Juli zu begraben. Ein kleiner Bagger ist gerade bei der Arbeit.
Ein Aufenthalt mit Wanderungen rund um diesen Ort an der Ostküste Grönlands ermöglicht eine interessante Symbiose zwischen den Erfahrungen mit der Inuitkultur und Naturerlebnissen. Unbekannt ist hier Kreuzfahrttourismus, der hauptsächlich an der Westküste existiert. So wurde hier im Osten der Lebensstil der Einheimischen viel weniger von der Zivilisation beeinflusst.
Wikinger, Dänen und die Nato
Es braucht daher intensive Unterstützung der Strukturen und Organisationen auf Grönland durch die Mutternation Dänemark, zu der Grönland seit 1814 als Kolonie gehörte. Aber schon vorher siedelten vor etwa 1000 Jahren die ersten Wikinger, die sich über 11 Generationen dort hielten. Inuit sind von Kanada aus über Thule nach Süden eingewandert. Schließlich wurde mit dem neuen dänischen Grundgesetz Grönland in drei Verwaltungsbezirke aufgeteilt. Da die Inuit jedoch meist gegenüber Dänen benachteiligt wurden, wuchs der innere Widerstand der schließlich dazu führte, dass am 1. Mai 1979 Grönland schließlich seine Selbstverwaltung, sowie die innere Autonomie mit eigenem Parlament und eigener Regierung erhielt. Seitdem besteht Grönland als „Nation innerhalb des Königreichs Dänemark“. An die Dänen erinnern viele Namen, wie Knud Rassmussen, nachdem ein riesiger Gletscher benannt ist. Er war ein dänisch-grönländischer Polarforscher, der vor über 100 Jahren die Station Thule in Nordwestgrönland gründete und insgesamt sieben Expeditionen durch Grönland leitete.
Auch für Amerikaner und die Nato war Grönland interessant als Verteidigungsbasis gegen den Sowjetblock über den Nordpol hinweg in den Fünfziger Jahren. Ehemalige Militärbasen liegen noch verlassen im Niemandsland an vereisten Ufern.
Spiele und Geschichten in der dunklen Zeit
Eine weitere Wandergruppe ist eingetroffen. Müde, aber mit strahlenden Augen betreten sie das Restaurant. Im Foyer stapeln sich die Rucksäcke. Die neuen Gäste bewegen sich langsam und sprechen leise. Daran erkennt man auch in Reykjavik auf Island Naturfreunde, die lange in der Wildnis waren. Instinkt und Feingefühl sind eine Folge der großen Abhängigkeit von den Naturgewalten in der Einsamkeit, besonders ausgeprägt bei den Inuit: alles hat eine Seele, alles steht miteinander in Kontakt, Steine Blumen, Tiere. So trösten sich die Jäger in der Einsamkeit und gewinnen damit Vertrauen in ihre gefährlichen Tätigkeiten. Ihre Wetterunempfindlichkeit ist ebenso legendär wie technische und handwerkliche Fähigkeiten mit den zur Verfügung stehenden primitiven Mitteln. „Moderne“ Hundeschlitten haben Plastikkufen die sich abnutzen. Mit ausgeklügelter Technik versahen die Grönländer immer noch die Holzkufen mit aufeinander liegenden Eisschichten. Damit wird die Gleitfähigkeit vervielfacht und die Kufen bleiben länger glatt. Es entstehen keine Kosten, kein Plastikmüll. Wertvolle Artifakte und Unikate dieser Inuitkultur sind im örtlichen Museum von Tasiilaq dargestellt.
Denken und Sprache waren früher anders strukturiert. Es gab bei den Zahlen nur 1, 2 und viele, auch existierten in ihrer Sprache keine Buchstaben. Zur Geburt zog die Frau ins Freie und brachte dort ihr Kind zur Welt, blieb ungefähr zehn Tage draußen mit ihm, bis die Nabelschnur abfiel. Jedoch war Inzucht ein Problem. Man kannte nur zwei Jahreszeiten, die helle und die dunkle Zeit. Sie veranstalteten im Winter Kerzenlöschspiele, um neue Partner auszulosen. Das war auch die Zeit der Erzählungen. Ohne Buchstaben kann man nicht lesen. Ihre eigene Geschichte überlieferten sie über Jahrtausende durch Erzählungen von Generation zu Generation. Man hatte viel Zeit und erfreute sich an Fadenspielen mit den Fingern und beherrschte 120 Muster. Mit die größte Bedeutung hatte der Besitz von Schlittenhunden für die Jagd auf Eisbär, Moschusochse oder Walrösser und Robben im Winter. Diebstahl war unbekannt. Wer wird schon was stehlen wo jeder jeden kennt und weiß wer was besitzt.
Die Inuit hatten und haben heute noch vom Schamanismus stark beeinflusste Einstellungen zu Leben und Tod. Um Schamane zu werden brauchte es außergewöhnlichen Mut und Geschicklichkeit. Man legte sich vor den Eisbären um ihn anschließend mit dem Speer zu besiegen. Medizin möchte man nicht nehmen. Ins Krankenhaus geht man gar nicht gern. Der Schamane trommelt und macht seine Anrufungen! Bei Altersschwäche wanderten Eingeborene ahnungsvoll hinaus in die Natur und meditierten, bis der Schlaf sie für immer mitnahm. Früher hat man altersschwache Familien- oder Stammesmitglieder bei Touren im Freien einfach zurückgelassen, um das Überleben der Gesunden zu sichern. Die Inuit sagen sie wären die vierte Welt. Seit etwa 1925 sind die Ureinwohner Grönlands christianisiert und besuchen gerne die evangelische Kirche in Tasiilaq. Parallel dazu herrscht eine andere Denkweise, die oft auch mit Legenden verwoben ist:
So wurde ein Riese von den Einwohnern eines Dorfes erschlagen und zerrissen. Seine Überreste hat man dann auf einem Uferfelsen verbrannt und die Asche anschließend in die Luft geworfen, wo der Sturm sie mitnahm. Aus der Asche entstanden viele Fliegenschwärme die sommers arktische Küsten heimsuchen.
Während die nächste Wandergruppe ihre ersten Touren unternimmt, geht es jetzt zurück in die Neuzeit mit dem Hubschrauberflug zum internationalen Flughafen Kulusuk. Die Elemente Fels, Eis und Meer wirken aus der Höhe noch kontrastreicher, unter dem dunkelblauen Himmel wie ein Gesang der Elemente. Am Ufer liegen verstreut bunte Holzhäuser. Nach wenigen Minuten schon blickt man hinab auf den lang gezogenen Fjord. Ein Motorboot zieht gerade einen weiten Bogen um den dort unten treibenden Eisberg. Das muss wohl Matthias sein, der das Gepäck der Passagiere auf diese Weise hinüber zum Flugplatz bringt.
Informationen:
Die Anreise nach Ostgrönland führt mit Zwischenlandung auf Island weiter mit Icelandair nach Kulusuk, wo man abgeholt wird. Allgemeine Details über Grönlandreisen gibt es unter www.greenland.com/de
Angebote:
Eine 16-tägige Wanderreise durch den Osten Grönlands bietet beispielsweise Wikinger-Reisen (Telefon 0 23 31 90 46) an. Zu den Höhepunkten der Tour, die an drei Terminen im Juli und August angeboten wird, gehört eine Wanderung mitten auf das Inlandeis. Im Preisinbegriffen sind die Flüge, der Bootstransfer nach Tasiilaq, Übernachtungen sowie Verpflegung. Die Tour kann ab 3 398 Euro gebucht werden; www.wikinger-reisen.de
Text und Fotos: Rainer Hamberger