Vietnam: Spaziergang an einem Neujahrstag durch die Hmong-Dörfer
Die Sonne zieht allmählich den zarten Schleier des Nebels aus dem 900 Meter hohen Tal über die Hochgebirgsgipfel, der Ausläufer des vietnamesischen Yunnan-Gebirges. Der 3.143 Meter hohe Fan Si Pan ist das Höchste, was Vietnam zu bieten hat. Der Blick ist frei gegeben auf Terrassenfelder und bis zu den Spitzen bewaldeten Bergen. Vereinzelt stehen, flache Bauern-Holzplanken-Häuser. Das Land erwacht…
Harald Schmidt (Text und Fotos)
Foto oben: Allmählich löst sich der Nebelschleier im Hochtal von Bac Ha auf.
Im Hochtal von Bac Ha (dt.: Minze) leben verschiedene Bergvölker vor allem die Hmong, eine der größten von 54 ethnischen Minderheiten Vietnams. Sie haben ihre eigene Kultur und Sprache behalten. Jeden Tag ziehen die Hmongs – Kinder, Jugendliche, junge und alte Frauen ihre traditionelle Kleidung an. Durch die Farben der Tracht gibt jede Ethnie sich zu erkennen: die vielfarbigen Blumen-Hmong, die Schwarzen, Roten und Blauen Hmong. Bei den ‚Schwarzen‘ gehen auch die männlichen ohne Ausnahme ganz in Schwarz. Das ist hier gelebter, authentischer Alltag. Daran konnte bisher auch die zunehmende Zahl der Bildungstouristen, Wanderer und Bergsteiger nichts ändern. Vielleicht sogar deshalb… „Hmong“ bedeutet übersetzt aus deren Sprache „frei“. „Sie wollen traditionell frei sein“, erklärt Hanh, der vietnamesischer Freund aus Hanoi, und fährt fort: “Die Hmong kamen vor etwa 300 Jahren aus Tibet und Südchina; etwas verspätet. Viele Flächen im Norden waren bereits von anderen Völkern belegt. So mussten die Hmong mit den Höhen vorlieb nehmen. Sie arbeiten hart. Können allerdings im Gegensatz zum Süden nur einmal im Jahr ernten. Bei Missernten haben sie dann ein Problem. Die Frauen überbrücken eine Notzeit mit Handarbeiten. Aber so viel Handarbeit kann keiner kaufen. Die Touristen sind zumeist gesättigt. Deshalb bietet der Staat immer wieder Kredite an, die allerdings von den Hmong nur ungern angenommen werden, eben weil sie unabhängig und frei leben wollen“, erklärt Freund Hanh.
In dem kleinen verschlafenen Landstädtchen im äußersten Norden Nordvietnams, 330 km nordwestlich von der Hauptstadt Hanoi, nahe der chinesischen Grenze findet jeden Sonntag in aller Frühe ein großer Markt statt, zu dem Bauern und Handwerker der Umgebung ihre Produkte anbieten. Gehandelt wird mit Kräutern, Gemüse, Gebrauchsgegenständen und Silberschmuck, Hunden, Hängebauchschweinen und Wasserbüffeln. In den letzten Jahren lockt der Markt zudem viele Touristen an.
Das Besondere am heutigen Tag: es ist Sonntag, aber keiner geht zum Markt. Der Kalender zeigt den dritten Tag des vietnamesischen Neujahrsfestes, des Tet-Festes – exakt Tet Nguyen Dan – an. Wie am Silvestermorgen in Europa, so ruht an diesem wichtigsten Feiertag im Jahr alles Öffentliche in Vietnam. Am dritten Tag besuchen sich die Familien und Freunde. So muss der Markt heute ausfallen.
„Komm lass uns bei einem vietnamesischen Neujahrs-Spaziergang durch die Dörfer im Tal entspannen. Da lernst du das andere Vietnam kennen“, meint mein Hanh.
Vor dem einzigen geöffneten Laden interessieren sich junge Teenager-Mädchen für Haarspangen. Nebenan färbt eine Hmong-Frau Eier. „Farbige Eier?“ „Ja, das Tet-Fest ist als Frühjahrsfest zugleich ein Neubeginn. Deshalb werden Tempel und Wohnhäuser mit Blüten oder Obst-Bäumchen geschmückt. Vietnamesen zahlen vor Beginn des Festes ihre Schulden und putzen ihr Haus gründlich“, erklärt Hanh.
Auf der Landstraße kommen zu Fuß Frauen der Blumen-Hmongs entgegen. Ihre farbige Kleidung macht ihrer Ethnie alle Ehre: mehrere Schichten Rock, ein Tuch über den Schultern, dicke Strümpfe – alles aus wollig gewebten oder gestrickten Stoffen mit der Grundfarbe Blau und vielen Querstreifen aus verschiedenen Rot- und Gelbtönen. Reifere Frauen tragen ein kariertes, speziell gebundenes Tuch nicht um, sondern auf dem Kopf. Ein flaches Umhänge-Täschchen aus dem Kleiderstoff bietet Platz für das Nötigste. Im eiligen Schritt, plaudernd und lachend gehen sie an den Fremden vorbei. Der Gast dreht sich um und verfolgt sie mit Blicken. Sie keineswegs.
Ein Holz-Kissen auf das Hockerchen
Am Hang über der schmalen Landstraße hängt wie ein Vogelnest ein Holzhaus im traditionellen Stil. Eine junge Hmong-Familie baut hier. Die hellen Holzplanken leuchten golden im Sonnenlicht. Ein nagelneu glänzendes Moped und ein an einem Pfahl festgezurrter schwarzer Wasserbüffel stehen davor. „Der Bauplatz am Hang wurde gewählt, weil er nichts kostet“, erklärt Freund Hanh. Das Haus ist geschmückt mit frischen Blüten von Mandelröschen und Pfirsich. Eine blutjunge Mutter in der farbigen Kleidung der Blumen-Hmong hat ihr Baby auf ihren Rücken gebunden und nimmt Wäsche von der Leine. „Ein glückliches Neues Jahr” („Chuc Mung Nam Moi”) wird ausgetauscht. Ein junger Mann in weißem Hemd und schwarzer Weste schaut aus der offenen Tür und winkt herein. Mit einem „Hallo“ und herzlichen Neujahrswünschen schwinden die letzten Hemmungen. Die Fremden werden zu willkommenen Gästen. Junge und reifere Männer sitzen an einem runden, lediglich 30 cm hohen Blechtisch. Obwohl das Tet-Fest zumeist in der Familie oder mit Freunden gefeiert wird, der heutige dritte Tag ist offen für Besuche. Der junge Hausherr San bittet die Neuen freundlich lachend zu Tisch. Mann sitzt auf Holzhockern, die Sitzfläche im A5-Format und nur fünf cm hoch. Jetzt wird ein körperlicher Unterschied zwischen einem Mitteleuropäer und einem Bauern aus Vietnams Bergen erkennbar: Es knackt im Knie. Der Gast spürt es beim Setzen und später beim Sitzen. Doch die aufmerksame junge Hausfrau legt verständnisvoll noch ein Brettchen wie ein Kissen darunter. Nun sitzt der Gast auf sieben cm Holz.
Eine Handvoll junger Frauen wirbelt um den Tisch, der voll beladen ist mit ländlichen Spezialitäten: mit Glasnudelsuppe, klebrigem Reis, Gemüse und Kräutern, Hühnerfleisch, dünn geschnittenem, frittiertem Speck vom Hängebauchschwein – ein knackig und würziger Genuss. Hanh reicht erfolglos eine Schüssel mit Hühnerfüßen. „Das ist eine Delikatesse bei uns. Musst du probieren“, meint der Schelm verschmitzt. Dann kommt der Maisschnaps, der eigentlich Wein ist. Die Prozente halten sich mit 5 bis 14 in Grenzen. Die getrunkene Menge des selbst Produzierten macht’s aber. Der Maischnaps – wie in anderen Regionen der Reisschnaps – wird wie Wein durch Gären von Mais oder Reis gewonnen.
Hausherr San erzählt: „Ich bin 20 und habe erst vor kurzem geheiratet. Meine Frau ist 17.“ Hanh flüstert dem Gast ins Ohr: „Offiziell heiraten Vietnamesen ab 18. Bei den Hmong dürfen junge Leute mit sogar erst 14 Jahren heiraten“. San fährt fort: „Ich habe drei Jahre lang als Koch in Hanoi gelernt und bin vor ein paar Wochen in die Heimat zurückgekehrt. Nun arbeite ich in einem Hotel im Touristenort Sa Pa unweit von hier. Beim Bau des Hauses helfen mir meine Freunde. Es gibt noch viel zu tun…“ Der Gast schaut sich um. Ein großes Bettgestell steht an einer Wand. Gegenüber hängt ein kleiner Altar mit Buddha und Räucherstäbchen. Zum Tet-Fest wurde er mit frischen Blüten sowie mit rotem Papier geschmückt. Aircondition brauchen die Bergvölker nicht, wenn sie traditionell bauen: zwischen Wand und Dach haben die Erbauer einen Spalt gelassen. Das ist die traditionelle Belüftungs- und Klimaanlage, die keinen Strom kostet. Die zirkulierende Luft sorgt im heißen Sommer für Kühle im Haus. Gastgeber San freut sich sichtlich über den zufälligen Besuch der fremden Gäste. „Ihr seid als gute Freunde vorbei gekommen und bereitet uns eine große Freude.“
Die Aufrichtigkeit ist klimatisch am Tisch zu spüren. Ein Gegenüber streckt dem Gast erneut sein Glas zum Anstoßen entgegen. „Aber gemeinsam austrinken!“ Frittierte Hängebauchschwein-Bauchscheibchen bilden eine solide, kräftig deftige Basis. „Ich bin von San der Onkel“, spricht ein 40jähriger den Gast an. „Am dritten Tag des Tet-Festes musst du mit uns drei Schnäpse trinken.“ Er prostet dem Gast zu. Doch es werden mehr als drei Schnäpse. „Auf die Gesundheit!“
Epilog
Das Tet – exakt Tet Nguyen Dan, das vietnamesische Neujahr – ist das wichtigste Fest in Vietnam. Wie die meisten traditionellen Feste in Vietnam folgt auch dieses dem Mondkalender mit 29,5 Tagen im Monat. Deshalb verändert sich jährlich das Datum in den Monaten Januar und Februar – im Jahr 2016 am 8. Februar. Wie in China, so sind auch in Vietnam für das folgende Jahr Tierkreiszeichen zugeordnet. Das Jahr der Ziege wird dann vom Jahr des Affen abgelöst.
Offiziell sind nur drei Tage arbeitsfrei, aber in der Tet-Fest-Woche wird vor allem auf dem Lande davor und danach noch gefeiert. Am Tag der Veröffentlichung sind wir also mitten drin…
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