Der 'unbekannte' bekannte Gardasee: Bella Vista mit Gänsehaut

Es entwickelt sich ein erhebendes Gefühl, wenn der Reisende von der Brenner-Autobahn hinter der Renaissance-Stadt Rovereto abbiegt, nach etwa 20 Kilometern den kleinen Ort Nago erreicht und von oben herab einen Blick durch Mittelmeer-Zypressen über Blumenwiesen vorbei an steilen Felsen weit auf den nördlichen Teil des Gardasees gleiten lässt.
Text und Fotos: Harald Schmidt
Die Nachmittagssonne gibt dem dunklen Wasser des größten und bekanntesten Sees von Italien einen Silberglanz. Links das Gebirgsmassiv des Monte Baldo mit dem über 2.079 Meter hohen Monte Altissimo, rechts der 370  Meter wie ein Schreibpult in den See abfallende Berg Monte Brione, der die Stadt Riva del Garda verdeckt. Es weht der Ora, einer von zwei speziellen Windströmen, vom Gardasee. Goethe hatte ihn sich genüsslich ins Gesicht blasen lassen als er 1786 auf seiner Italienreise vier Tage nach Überquerung des Brennerpasses hier Halt machte: „Nach Mitternacht bläst der Wind von Norden nach Süden… Jetzo Nachmittag wehet er stark gegen mich und kühlt die heiße Sonne gar lieblich.“ Dieser Wind machte den Gardasee in den zurückliegenden 50 Jahren zum Paradies für Segler und Surfer. „Denn Ora kommt pünktlich jeden Tag von etwa 13 bis 17 Uhr.“, erklärt Roberta Maraschin Leiterin vom Tourismusbüro Ingarda Trentino in Riva.
Wanderweg mit Kalkbrennöfen und Nagelschmieden
In der Gardasee-Region kann der Wanderer nicht nur Natur und reizvolle Landschaft erleben, sondern auch Geschichte und Kultur. Der Weg des ‚Ponale‘ zum Beispiel – einer alten Verbindung vom Gardasee zum stillen Ledro-Tal hinter den Bergen – ist ein leicht zu bewältigender Wanderweg. Ein Stück führt auf der alten still gelegten Uferstraße des Gardasees, dann durch grüne Wälder entlang am Ponale, einem Bach. Unterwegs erzählen historische Kalkbrennöfen und Nagelschmieden für Militärstiefel Geschichten über die nicht nur regionale, sondern europäische Geschichte. Diese Nagelproduktion war zum Beispiel im ersten Weltkrieg so kriegswichtig, dass die Arbeiter nicht eingezogen wurden. In diese Gegend kamen während des Krieges auch zahlreiche Flüchtlinge aus Böhmen. Sie brachten zum Beispiel eine heute vermeintlich italienische Spezialität mit – die Gnocchi, kleine Kartoffelklößchen. Schließlich endet der Weg am Ledro-See mit den Pfahlbauten aus der Bronzezeit.
Besagter kriegswichtiger Ponale-Weg wurde durch eine gut getarnte Festung am Gardasee geschützt. Der Fels unweit des alten Wasserkraftwerkes der Stadt Riva war zu diesem Zweck vom österreichischen Militär vor etwa 120 Jahren wie ein Käse durchlöchert worden.
Wandern in 600 Meter Tiefe
Gardasee_Festung_HaschWanderer folgen dem Festungsexperten Volker auf der alten für den Verkehr stillgelegten Gardasee-Straße, die früher am nördlichen Ufer entlang führte. Ziel ist ein Tunnel nahe von Riva. An der Tunnelwand versperrt eine unscheinbare Eisengittertür ein schwarzes Loch. Volker schließt sie mit einem schweren Schlüssel auf. Die Tür öffnet sich mit quietschendem Geschrei als ob sie den einst hier darbenden Soldaten eine Stimme geben will. Kühle, feuchte Luft schlägt den Besuchern entgegen. Es bildet sich Gänsehaut durch ein schauriges Gefühl und gefühlte Kälte. Spärlich erleuchten Lampen einen steilen Treppengang. 250 nasse Stufen führen in die Tiefe. Unten verwirren riesige Gänge. Über dem Besucher türmen sich nun 600 Meter Fels. Am Ende eines Ganges kommt irgendwann Licht am Tunnel: große Löcher wurden von den Fels-Festungsarchitekten durchstoßen. Sie waren für Kanonenstellungen vorgesehen. Allerdings wurde mit diesen Kanonen glücklicherweise im 1. Weltkrieg kaum geschossen. Die meisten Soldaten starben auf beiden Seiten durch Unterkühlung, Hunger, Unfälle oder Krankheiten. Heute erlauben die meisten Löcher für die Kanonenstellungen wie ein großer Panorama-Bildschirm einen ‚Bella Vista‘ (schönen Blick) auf den Gardasee und die Bergwelt. Und was für einen…
 Waffenwerkstatt der Bronzezeit
Ledrosee_Pfahlbauten_Bronzezeit_Harald SchmidtFerienzeit am anderen Ende des Ponale-Weges am Ledro-See im gleichnamigen Tal: Am Ufer auf einer schattigen Wiese in Molina, etwa 30 Minuten von Riva del Garda entfernt, kommen 12- bis 16jährige Jungen bevorzugt mit ihren Vätern ins Schwitzen. Sie wollen Pfeil und Bogen aus prähistorischer Zeit nachbauen. Der Platz für die Waffenproduktion hat Tradition. Vor 3.700 Jahren lebten hier Bronzezeitmenschen in Pfahlbauten. Als vor etwa 85 Jahren der Ledro-See künstlich abgesenkt wurde, kamen einige hundert in den Grund gerammte Holzpfähle zum Vorschein. Archäologische Ausgrabungen folgten. Die zahlreichen Funde wie Keramik, Geräte zum Spinnen und Weben, Waffen, darunter auch Bögen, machten diese Pfahlbauten-Siedlung zu einer der bedeutendsten in Mitteleuropa. Jeden Sommer bietet das hier entstandene Pfahlbauten-Museum seinen Gästen die Möglichkeit, den Alltag unserer Ahnen nachzuerleben. Mit Archäologen wird Brot gebacken, getöpfert, gewebt, gefärbt oder Pfeil und Bogen gebaut.
Donato, ein Spezialist für urzeitliche Waffen, hatte bevor die jungen Waffenschnitzer kamen einen Akazien-Baumstamm geviertelt. Dieses Holz wurde von den Bronzezeit- menschen in dieser Region für Bögen bevorzugt. Gunnar aus Leipzig, Sergio aus Rom und Peter aus Köln bringen das klobige Holz mit Beil und einer Hippe in Form. Schon nach fünf Minuten wird nach so einer Waffenherstellung der Arm lahm. Zudem mahnt Donato zur Vorsicht: Eine zu tiefe Kerbe im Holz könnte beim späteren Spannen des Bogens zu einem Bruch führen. Geduld ist also nötig – auch wenn es schwer fällt. Doch nach weiteren Arbeitsgängen wie Glätten und später Kochen des Holzes, um es elastisch werden zu lassen, Flechten der Sehne aus Naturfasern sowie letztlich Spannen des Bogens am zweiten Nachmittag, wartet nach etwa sechs Stunden Arbeitszeit der Lohn: der erste Pfeil wird abgeschossen.
Die saure ‚Hand Buddhas‘
Zitrone_BuddhasHand_Gatrdasee_Harald SchmidtMarco Girardi aus Limone, Chef von Lago die Garda Lombardia, hält mehrere unterschiedliche Zitronen in seinen Händen. „Allein bei uns gibt es bestimmt 40 Zitrusarten. Hier die ‚Hand Buddhas‘ ist eine wertvolle Frucht deren Essenz in Parfüm und Likören verarbeitet wird.“ Die ‚Hand Buddhas‘ ähnelt nur in der grün-gelben Farbe den ‚normalen‘ Zitronen. Sie sieht aus wie eine Monsterhand mit fünf bis neun langen Fingern.
„Diese Zitronen hier sind nicht gespritzt und nicht gewachst“, weist Marco mit dem Kopf auf die Früchte in seinen Händen. „Ach das glaubst du doch selbst nicht“, provoziert der Gast. „Aber ja, die sind aus meinem Zitronengarten. Wenn sie gespritzt sind, so findest du winzige dunkelblaue Flecke auf der Schale, in den Poren.“ Der erstaunte Blick des Gastes lässt Marcos Redefluss weiter sprudeln. „Limone ist der nördlichste Ort in Europa, wo Zitronen angebaut werden können. In der Gardasee-Region wurden die ersten Zitronen Italiens lange vor Sizilien angebaut. Vor dem Bau der Gardasee-Straße war Limone nur mit dem Boot erreichbar. Zitronen wurden über die damalige Grenze, die bei Riva lag, geliefert.“
Saure Zeiten  der Zitronenproduktion begannen am Gardasee in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zitronen wurden in anderen Teilen des südlichen Europas billiger produziert. „Heute wird dank der Förderung mit Steuergeldern der EU die regionale und örtliche Landwirtschaft wieder gefördert. Verfallene Zitronengärten werden wieder rekultiviert oder für andere Zwecke – zum Beispiel für kulturelle –  aufgebaut. So erlebt etwas regional Typisches wieder eine Renaissance.“
Tourismusexperte und Freizeit-Zitronengärtner Marco erinnert sich: Meine Eltern hatten ursprünglich Zitronen angebaut. Aber der Tourismus ließ sie zu Gastgebern werden. Vor allem die deutschen Gästen haben uns zu Wohlstand verholfen.
Noch ein saurer Tipp: Die Leute kaufen lieber gelbe, reife Zitronen. Das ist eigentlich falsch. Grüne Zitronen geben mehr Saft ab als die gelben Ausgereiften.
 
Epilog
Den Gardasee – den kennt doch jeder. Assoziiert werden Surfen und Segeln, gutes Essen und Wein. Kein Wunder: Der Gardasee ist ein Klassiker, der bereits von Klassikern bereist wurde. Goethe war zufrieden mit seinem Abstecher vom Weg ins südliche Italien und notierte fleißig. Zudem er am See Abenteuer bestehen musste. Vor allem seit den End50er und 60er Jahren des vorherigen Jahrhunderts wurde der Gardasee zu einem der wichtigsten ausländischen Reiseziele der deutschen Ferien- und der bayerischen Naherholungs-Touristen.
Trotzdem hat der Traum-See immer noch viel Unbekanntes in petto, das es zu entdecken gilt. Genau darauf halten die italienischen Gastgeber ihren Scheinwerfer. Das alte Image als Ziel der Surfer, Segler sowie als Zwischenstopp für weiterfahrende Italientouristen wird entstaubt und erweitert. ‚Green Line‘ heißt nicht nur die junge Vereinigung der See-Anlieger und des Umlandes, sondern ist Programm: Die ‚grünen‘ Angebote liegen im Trend. Ziel ist Rücksichtnahme auf die Natur durch Vernunft. Ressourcen werden durch möglichst geschlossene Kreisläufe gespart.
Zu den frischen Programmangeboten gehören unter anderem: Wandern auf der ‚Milchstraße‘, die Festungen und Paläste aus unterschiedlichen Epochen, Plätze der Bronzezeitmenschen, die sich hier vor etwa 3tausend Jahren wohl fühlten, aber auch die nahen kleineren Seen – wie der Idro-, Iseo- oder Ledro-See. Diese Seen sind mindestens ebenso schön wie der Gardasee, haben aber weniger Trubel.
Unverdient wenig bekannte regionale Spitzen-Delikatessen können direkt beim Erzeuger auf Almen, Bauernhöfen, in Winzerkellern, Ölmühlen und sogar in einer alten Apotheke im Ledro-Tal gekostet werden. Zu den Spezialitäten gehören exzellente Weine wie der bekannte Bardolino, aber auch Nosiola, Teroldego und der in Mozarts Oper ‚Don Giovanni‘ besungene Marzemino. Spezialitäten sind aber auch der Zedern-Likör ‚Cedrina‘ oder der 61%tige Waldbeerenlikör Picco Rosso. Salami, Käse sowie delikate Fischgerichte, u.a. die nur hier vorkommende Gardasee-Forelle, sind Spezialitäten die stärker angeboten werden (müssen). Mehr als ein Blickfang sind die so genannten Riesen-Zitronen. Wer weiß auch schon, dass der Gardasee die nördlichste Region für den Olivenanbau in Europa ist?
Frische Angebote in punkto Wandern gibt es permanent: Wege mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden für Fuß-, Bike- und Reit-Wandern wurden und werden angelegt oder rekonstruiert. Sie führen auf historischen Wirtschaftspfaden, auf weichem Waldboden, über Stock und Stein, durch Bäche und Schluchten.
visitgarda.com
Fotos von Harald Schmidt:
Traditionelles Ziel – Riva del Garda  (Harald Schmidt)
Historische Wanderung: 600 Meter unter dem Felsgestein
Pfahlbauten der Bronzezeit am Ledro-See
Die saure Hand von Buddha

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Hinweis: Dieser Beitrag wird regelmäßig von Mitgliedern der Reise-Stories Redaktion wie Heiner Sieger, Gerhard Fuhrmann und Jupp Suttner auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Falls Sie Anmerkungen zu diesem Beitrag haben, kontaktieren Sie bitte direkt hier die Redaktion.

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