Bild oben: Kauai: Blick vom Waimea Canyon Lookout auf die Felsbastionen
Fotos+Text: Markus Tischler
Die ersten zehn Kilometer sind die Hölle. Wer auch immer den Waimea Canyon Drive geplant und gebaut hat, Rücksicht auf Radtouristen ist dabei nicht genommen worden. Schon auf dem ersten Kilometer hinauf zum Waimea Canyon Lookout bäumt sich die Straße auf, zehn, elf, zwölf Prozent Steigung. Es folgen weitere Rampen, 14, 15, 16, einmal auch 18 Prozent. Das eine oder andere Auto, das mich überholt, klingt, als ob es kurz vor dem Motorinfarkt steht. In Kekaha, fünf Kilometer vom Ort Waimea – übrigens 1778 der erste Landeplatz von Kapitän James Cook auf den hawaiischen Inseln -, beginnt die Koke’e Road. Die trifft nach weiteren 13 Kilometern und in rund 900 Meter Höhe auf den Waimea Canyon Drive. Für Radfahrer einfacher zu fahren. Mehr Kilometer, werde ich mir später eingestehen müssen, können am Ende mitunter weniger anstrengend sein. Zumal es von der Kreuzung geht es ja noch einmal weiter, noch einmal gut zehn Kilometer bis zum Waimea Canyon Lookout auf 1219 Meter Höhe. Der Schriftsteller Mark Twain hat dem 22 Kilometer langen, bis zu 1,6 Kilometer breiten und 1097 Meter tiefen Waimea Canyon den Namen „The Grand Canyon of the Pacific“ verpasst und es soll Leute geben, die behaupten, dass der Waimea Canyon schöner sei als der Grand Canyon in Arizona. Daran muss ich denken, während ich mein Rad die Straße hinauf schiebe. Und ich schiebe mein Rad sehr oft bis zur Kreuzung. Auf meinem Tacho blinken 42 Grad Celcius auf. Schattige Stellen sind selten. Der Waimea Canyon, sage ich mir, muss schon viel zu bieten haben, damit sich diese Schinderei lohnt.
Als ich endlich den Parkplatz erreiche, ist es später Nachmittag. Neben mir hält ein Auto, der Fahrer lässt das Fenster runter. Er ist beeindruckt zu sehen, dass jemand mit dem Rad hier oben unterwegs ist. „Wie lange haben sie gebraucht?“, fragt er. „Vier Stunden“, antworte ich, obwohl es eher fünf waren. „Ich musste zwischendurch schieben, es ist doch sehr steil.“
Fünf Minuten später stehe auf der Aussichtsplattform. Und einmal mehr bleibt mit die Luft weg. Wow, einfach wow. Manchmal gibt es Anblicke, die sich schwer in Worte fassen lassen. Das warme Licht der tiefstehenden Sonne hebt die rot-braun-grünen Felsbastionen hervor, es bringt die Verwerfungen zur Geltung. Ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Und ich vermag in diesen Minuten erst recht nicht zu sagen, ob der Waimea Canyon schöner ist als der Grand Canyon oder beeindruckender. Ich empfinde ihn auf seine ganze eigene Art faszinierend.
Entstanden ist der Canyon aufgrund des Abbröckelns der alten Verwerfungslinie von Kaua‘is ursprünglichem Schildvulkan Wai’ale’ale. Gegen diese Klippenkante flossen später Lavaströme vom Schildvulkan Lihu’e, der die East Coast der Insel bildete. Womöglich kann ich an diesem Nachmittag sogar den Mount Wai’ale’ale sehen, Kau’is zweithöchster Berg, wenn ich wüsste, um welchen der Gipfel im Osten es sich handelt. Meist ist der Mount Wai’ale’ale allerdings von dicken Wolken umgeben, und die Region gilt als zweitnassester Ort der Erde. Hawaii ist eben nicht nur Sonne, Strand und Palmen.
Gut eine Stunde später habe ich auf dem Campingplatz des Koke’e State Parks mein Zelt aufgeschlagen. Irgendwo campiert noch ein Pärchen, das war es dann. Die fünf oder sechs einfach wirkenden Cabins scheinen alle nicht belegt zu sein, das kleine Museum hat geschlossen, aber im kleinen Laden der Lodge habe ich wenigstens noch ein paar Dosen Sprite kaufen können. Dinner gibt es nicht, Frühstück wird im schlichten Restaurant erst ab 10 Uhr serviert. Es ist Ende September, Nachsaison auf Hawaii, und wenig los. Doch die Einrichtungen im Koke’e State Park wirken nicht so, als ob hier in der Hauptreisezeit täglich mehrere Dutzend Besucher wenigstens eine Nacht bleiben.
Am nächsten Morgen bin ich noch vor dem Frühstück unterwegs und unternehme eine kurze Wanderung in den Canyon hinab, der auf mehreren mehr oder weniger anspruchsvollen Trails erkundet werden kann. Anschließend radele ich zur Lodge zurück, bestelle im Restaurant des Breakfast-Klassiker, nämlich zwei Spiegeleier, Speck, Toast und Kaffee und radele danach weiter zum Kalalau Lookout. Statt in den Canyon blickt man von hier in das aus Kinofilmen wie „King Kong“ (Original), „Jurassic Park“ oder auch „Sechs Tage, sieben Nächte“ bekannte Kalalau Valley und auf die schroffe Na Pali Coast.
Mein eigentliches Ziel für diesen Tag aber ist der Awa‘awapuhi Trail, der gut einen Kilometer Meile vor dem Kalalau Lookout an einem Parkplatz beginnt und über etwas mehr als fünf Kilometer zur Küste führt. Es wird kein Spaziergang, mir geht schnell das Gefühl für die Entfernung verloren. Geschätzt bin ich schon drei Kilometer gegangen, da erzählt mir ein Paar, dass noch vier Kilometer vor mir legen. Natürlich entdecke ich erst kurz danach, dass am Wegesrand alle Viertelmeile ein kleines Schild auf die zurückgelegte Distanz hinweist Der Weg selbst führt einige hundert Meter hinab, hin und wieder rutsche ich kurz auf den teils feuchten Wurzeln weg. Mein Hemd ist ob der Luftfeuchtigkeit klitschnass, zu sehen gibt es wenig, der Pfad verläuft durch den Wald und wird zum Ende hin ausgesprochen schmal. Aber Wanderer, die mir entgegenkommen, schwärmen von der Aussicht: „It is amazing!“
Als ich schließlich das Ende des Trails erreiche und von der Klippe den Weitblick genieße, weiß ich nicht, ob ich mich dieser Begeisterung anschließen soll und kann. Schön ja, aber angesichts der insgesamt zehn Kilometer langen Wanderung mangelt mir es an der rechten Aha-Stimmung. Vielleicht bin auch einfach zu müde. Auf dem Rückmarsch beschließe ich, um noch einmal zum Kalalau Lookout zu fahren.
Von dem rund einen Dutzend Leuten, die ich hier dann noch antreffe, machen sich die meisten gerade auf zu ihren Autos. Es ist kurz nach 16 Uhr, und zu einer jungen Frau, die mit ihrer Kamera hantiert, frage ich: „Wo sind all‘ die Menschen hin? Es ist doch jetzt das schönste Licht?“ Sie zuckt mit den Schultern. Am Grand Canyon gehört der Sonnenuntergang zu den Highlights eines Besuchs. Im Koke‘e State Park und im Waimea State Park ist es offenbar der Zeitpunkt, an dem die meisten wieder nach Hause oder in ihr Hotel fahren.
Nach zwei Nächten auf dem Campingplatz verlasse ich den State Park wieder. Ohne Frühstück geht es noch einmal zum Waimea Canyon Lookout. Eigentlich wollte ich durchfahren. Warum, weiß ich auch nicht. Ich habe keinen rechten Zeitdruck, nur ein bisschen Hunger. Und wer weiß, wann und ob ich je wieder hier oben sein werde. Es ist kurz vor 8 Uhr, als ich erneut auf dem Parkplatz halte, und außer mir ist noch niemand da auf der Aussichtsplattform. Im Licht der aufgehenden Sonne wirkt der Canyon nicht ganz so eindrucksvoll, aber ich bleibe gut eine halbe Stunde. Nach und nach kommen die ersten Besucher, Fotoapparate werden gezückt, iPhones für Selfies hochgehalten. Kaum jemand scheint länger als fünf Minuten zu bleiben. So viel Zeit für Fotos muss sein, dann verlassen viele die Vorstellung in diesem Freilufttheater wieder. Der Waimea Canyon hat es verdient, länger bewundert zu werden.
Infos:
Das Magazin National Geographic Traveller hat Kauai zum Top-Reiseziel 2017 erkoren.
www.nationalgeographic.com